In der Neidlinger Kugelmühle werden nach altem Vorbild Steinmurmeln produziert. Ein Besuch bei Deutschlands letztem Kugelmüller.
Ägypter, Römer, Babylonier und Germanen hatten trotz aller kultureller Unterschiede etwas gemeinsam: Sie spielten mit Murmeln. Der Name „Murmel“ verweist auf das Material, aus dem das Spielzeug hergestellt wurde – Marmor. Nur Wohlhabende konnten sich solche Steinmurmeln für ihre Kinder leisten; alle anderen mussten sich mit gerollten Tonkügelchen, Nüssen oder ähnlichem behelfen. Doch wie macht man eine perfekte Steinkugel?
Was ist eine Kugelmühle, und wie funktioniert sie?
Die Kugel ist die Urform des Universums und in ihrer Perfektion nicht so ohne weiteres herzustellen. Die genaue Beobachtung der Natur veranlasste unsere Vorfahren zur Entwicklung von Kugelmühlen. „In einem natürlichen Bachbett wird Geröll und Geschiebe so lange aneinandergerieben, bis sich kantige Steine unter der Kraft des Wassers zu rundlichen Kieseln abgeschliffen haben“, erklärt Kugelmüller Stefan Metzler. „Die Kugelmühle ahmt diesen Vorgang nach und gibt ihm eine gezielte Richtung.“
Im Wesentlichen besteht eine Kugelmühle aus zwei Teilen: Dem „Genger“ und dem „Läufer“. Der Genger ist ein liegend fixierter Mühlstein mit eingehauenen Rillen.
Von oben betrachtet bilden diese Rillen Kreise; im Querschnitt sind es Halbkreise. Über dem Genger dreht sich ein vom Wasser angetriebenes und ebenfalls waagrecht montiertes Mühlrad aus Holz. Das Mittelstück des Gengers weist dasselbe Rillenprofil auf wie der Läufer. Übereinandergelegt bildet sich so ein schlauchartiger Rillenkanal.
In diesen Rillenkanal werden nun die Steinrohlinge eingelegt. Diese müssen so weit vorbearbeitet sein, dass sie sich bequem zwischen den Handflächen rollen lassen. Sind sie noch zu würfelförmig, verkanten sie sich in der Mühle. Der Läufer nimmt die Rohlinge mit und rollt sie auf dem Genger so lange im Kreis, bis sie sich kugelrund abgeschliffen haben.
Deutschlands letzter Kugelmüller hat viel zu erzählen
Etwa zweiundzwanzig Stunden dauert dieser Vorgang in der Neidlinger Kugelmühle. Die Kugeln, die auf diese Weise entstehen, sind ungeheuer präzise: Die Abweichungen liegen in einem Toleranzbereich von wenigen Hunderstelmillimeter im Durchmesser. Von selbst entsteht eine solche Präzision nicht. Viele Jahre lang hat Stefan Metzler getüftelt, beobachtet, berechnet und ausprobiert, bevor er mit dem Ergebnis zufrieden war.
Von einem alten Kugelmüller hat er die Grundlagen des Handwerks gelernt. Die Feinheiten brachte er sich selbst bei. Heute hat er das Handwerk längst zur Kunst erhoben und ist Experte für jedes einzelne Detail der Kugelherstellung. Mit ansteckender Begeisterung und viel Elan lässt er Besucher der Kugelmühle an seinem Wissen teilhaben, und schnell packt einen beim Zuhören die Faszination.
Denn was der Kugelmüller erzählt, geht über trockene Technik weit hinaus. Wer zuhört und ein paar neugierige Fragen stellt, erfährt allerhand. Zum Beispiel, dass die Mühlen im Winter schneller drehen als im Sommer, dass der Vollmond sie bremst, und dass Steinkugeln unter linksdrehenden Mühlrädern einen Tick schneller fertig werden als unter rechtsdrehenden.
Ohne Müller ist die Kugelmühle wenig spektakulär
In der Neidlinger Kugelmühle, auf weiter Flur der letzten ihrer Art, gibt es viel zu sehen, zu entdecken und zu staunen. Allerdings nur, wenn man sich einlässt. Denn die Mühle selbst ist wenig spektakulär: Vier Wasserrädchen, die sich im Bach drehen und mehr verbergen als sie preisgeben. Erst der Besuch in der Murmelmanufaktur und das Gespräch mit dem Kugelmüller machen die Kugelmühle zu einem ausgesprochen interessanten und außergewöhnlichen Ausflugsziel.
Anfahrtsplan, Öffnungszeiten und Eintrittspreis sowie zahlreiche weitere Informationen zur Murmelherstellung finden Sie auf der Website der Kugelmühle Neidlingen.