Wer auf dem Land wohnt, braucht keinen Wecker. Rotkehlchen, Spatz und Star verraten, wann die Sonne aufgeht und der Tag beginnt.
Jeder Vogel stimmt seinen Morgengesang zu einer anderen Zeit an. Hat einer erst einmal mit dem Konzert begonnen, so gesellen sich die anderen Vogelstimmen nach und nach dazu, und zwar in recht exakten Abständen.
Wer auf dem Land wohnt, kann so anhand des Vogelgezwitschers die Uhrzeit bestimmen, auch wenn gerade keine Uhr in Sichtweite ist. Vorausgesetzt, er kann die einzelnen Vogelstimmen unterscheiden, ist auch frühmorgens fit im Rechnen und weiß, wann die Sonne aufgeht. Denn nur dann funktioniert die Vogeluhr.
Auch wenn manches davon abergläubisch klingen mag, so steckt doch in vielem mehr als ein Funken Wahrheit, denn Bauernregeln entstanden auf der Basis jahrelanger, genauer Natur-beobachtung. Viele dieser Bauernregeln sind an "Lostage" geknüpft – Tage, die erfahrungsgemäß eine stabile Wetterlage bringen.
In unserem Libellius-Magazin finden Sie die wichtigsten Lostage für das ganze Jahr, kurze Biographien der Heiligen, welche den Lostagen ihren Namen geben, und eine Auswahl von Bauernregeln.
Neunzig Minuten vor Sonnenaufgang: Der Gartenrotschwanz beginnt das Konzert
Der erste morgendliche Sänger ist der Gartenrotschwanz. Wobei „morgendlich“ vielleicht falsche Vorstellungen aufkommen lässt, denn der lebhafte Singvogel beginnt bereits zu singen, wenn es noch stockfinster und – zumindest gefühlt – mitten in der Nacht ist. Mitte Juni erklingt sein „Jüh jik jiik“ bereits um drei Uhr früh; Mitte Mai immerhin erst gegen vier Uhr morgens.
Warum das so stark variiert? Die Umgebungshelligkeit bestimmt, wann eine Vogelart mit ihrem Gesang beginnt – beim Gartenrotschwanz ist das neunzig Minuten vor Sonnenaufgang. Die exakte Uhrzeit, wann das Morgenkonzert im Garten beginnt, hängt also von der Zeit des Sonnenaufgangs ab, welche wiederum vom Datum und auch vom Ort abhängt: In Buxtehude singen die Vögel auch am selben Tag etwa eine Viertelstunde später als in Lindau.
Eine Stunde, zwanzig Minuten vor Sonnenaufgang: Das Rotkehlchen fällt ein
Zehn Minuten nach dem Gartenrotschwanz erwacht das Rotkehlchen. Der kleine Vogel mit der roten Brust soll Jesus im Sterben getröstet haben. Wegen seiner Zutraulichkeit ist das Rotkehlchen ein Sympathieträger, dem man den „Lärm“, den es frühmorgends veranstaltet, gern verzeiht. Immerhin ist sein Gesang mit 275 nachgewiesenen, sich ständig ändernden Motiven recht abwechslungsreich.
Eine und eine Viertelstunde vor Sonnenaufgang: Die Amsel betritt die Bühne
Fünf Minuten nach dem Rotkehlchen ergänzt die Amsel das Morgenkonzert. Dabei brauchen gerade Amselmännchen eigentlich keine Unterstützung, sondern sind durchaus begabte Solisten. Amseln gelten als besonders kreativ im Erfinden, Variieren und Kombinieren von Klangmotiven; ihr Reviergesang ist besonders im Frühjahr abwechslungsreich und angenehm zu hören.
Eine Stunde und zehn Minuten vor Sonnenaufgang: Der Zaunkönig erwacht
Weitere fünf Minuten später gesellt sich der Zaunkönig zu den Sängern. Dem drittkleinsten Vogel Europas wird große Schlauheit nachgesagt. Nach einer Fabel des Äsop soll es dem Wicht gelungen sein, den Adler in einem Wettstreit auszutricksen und so zum König der Vögel gekürt zu werden. Seine geringe Körpergröße macht der Zaunkönig mit Stimmgewalt wett: Laut schmettert er seine Triller in die Luft. Bis zu neunzig Dezibel kann er dabei bei guten Bedingungen erreichen, und noch in fünfhundert Metern Entfernung erfährt jeder, dass es noch ziemlich genau ungefähr ganz exakt siebzig Minuten bis zum Sonnenaufgang sind.
Eine Stunde vor Sonnenaufgang: Der Kuckuck meldet sich zu Wort
Zehn Minuten später wird der Vogelchor durch eine weitere, markante Stimme ergänzt: Der Kuckuck tut kund, dass es nur noch eine Stunde bis zum Tagesanbruch ist, und damit Zeit für seine Wirtsvögel, die Eier zu bebrüten und die Küken zu füttern, die ihnen der schlaue Kuckuck untergejubelt hat.
Fünfzig Minuten vor Sonnenaufgang: Die Kohlmeise bereichert den Chor
Weitere zehn Minuten später fällt die Kohlmeise in das Zwitscherkonzert ein. Sie ist nicht nur die größte und am weitesten verbreitete Meisenart in Europa, sondern auch die stimmbegabteste. Ihr gesangliches Repertoire ist beachtlich, und sie trägt es nicht erst im Frühjahr, sondern auch schon an sonnigen und milden Wintertagen vor.
Vierzig Minuten vor Sonnenaufgang: Der Zilpzalp erwacht
Eine gute halbe Stunde bevor die Sonne über den Horizont steigt, steigt der Zilpzalp ins Geäst und beginnt mit seinem recht eintönigen, dafür aber markanten Gesang. Sein lautmalendes „zilp-zalp-zelp-zilp-zalp“ gab ihm, wenig originell, seinen deutschen Namen. Zu Gesicht kriegt man ihn eher selten, und wenn, dann wird er gern übersehen, denn der Zilpzalp ist klein, hat keine auffällige Zeichnung und bleibt gerne gedeckt in den Baumkronen.
Eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang: Der Buchfink „pinkt“ im Dialekt
Mit einem „Pink pink“ oder auch „Fink, fink“, macht der Buchfink eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang auf sich aufmerksam. Laut und durchdringend singt er aber auch noch eine Reihe anderer Töne und Tonfolgen, die sich am Ende oftmals überschlagen. Sein „trü-üüb“ soll Regen bringen, was aber nicht bewiesen ist. Fest steht hingegen, dass der Buchfink auch bayrisch, schwäbisch und sächsich singen kann: Je nach Wohnregion pfeift er in unterschiedlichen Dialekten.
Zehn Minuten vor Sonnenaufgang: Die Spatzen pfeifen von den Dächern
Kurz vor knapp schafft es auch der Spatz noch rechtzeitig zum Morgendämmerungskonzert. Mit einem eifrigen, monotonen und relativ lauten Tschilpen untermalt er die anderen Vogelstimmen. Sein Gesang ist wenig originell und wird mitunter als störend empfunden.
Im 16. Jahrhundert verärgerte das „verdrießlich große Geschrei“ der Sperlinge einen Dresdner Pfarrer dermaßen, dass er den Spatz exkommunizierte. Insgesamt hatte der Spatz häufig unter der Spatzenfeindseligkeit zu leiden; oft genug wurde im Lauf der Jahrhunderte mit der sprichwörtlichen Kanone auf ihn geschossen. Heute steht der Spatz auf der Roten Liste der bedrohten Arten.
Zehn Minuten nach Sonnenaufgang: Der Star der Vorstellung kommt mal wieder zu spät
Kurz nach Sonnenaufgang gibt der Star seinen Gastauftritt. Er bevorzugt zum Singen eine exponierte Position, am besten ganz oben auf einem Baum und am allerbesten in der Nähe seiner Bruthöhle. Der Star hat eine große Begabung, Laute und Tierstimmen nachzuahmen – er „spottet“ in einer Vielzahl von Pfeif-, Schnalz- und Zischlauten und ist in der Lage, auch Hundegebell oder Rasenmäherklänge von sich zu geben. Und falls frühmorgends Ihr Handy klingelt, lassen Sie sich davon nicht irritieren – denn auch die Nachahmung von Klingeltönen sind für den Star kein Problem.
Tipp: Zugegeben, das mit der natürlichen Vogeluhr und der exakten Zeitbestimmung ist ein wenig umständlich. Zudem funktioniert es nur morgens. Wer in der Stadt wohnt, nicht rechnen, aber dennoch Vogelgezwitscher möchte, der hat vielleicht Freude mit einer Vogel-Funkquarzuhr. Zwölf heimische Singvögel wie Amsel, Heidelerche, Nachtigall und Rotkehlchen zwitschern zu jeder vollen Stunde für etwa zehn Sekunden.