Gänsegeier sind fantastische Segelflieger und faule Hunde. Wenn sie wollen, fliegen sie 600 Kilometer am Tag. Wenn sie können, fahren sie lieber Auto.
Mit einer Körperlänge von etwa einem Meter und einem Gewicht von sechs bis elf Kilogramm gehören Gänsegeier zu den größten in Europa heimischen Vögeln. Sie erreichen eine Flügelspannweite von 240 bis 280 Zentimeter. Damit werden sie deutlich größer als der Steinadler (220 cm Spannweite), bleiben aber etwas kleiner als ihre Verwandten, die Bartgeier (bis zu drei Meter Spannweite).

Gänsegeier haben ein braun-schwarzes Gefieder mit weißen „Hosen“. Ausgewachsene Tiere haben weiße Daunen an Kopf und Hals, bei Jungvögeln ist die Halskrause dunkel. Es gibt keinen Geschlechtsdimorphismus, männliche und weibliche Vögel sind für einen Laien nicht zu unterscheiden.
Geierpaare sind sich ein Leben lang treu

In Europa sind Gänsegeier vorwiegend in Spanien, Portugal, Frankreich, Griechenland, der Türkei und den kroatischen Inseln heimisch. In nördlicheren Regionen brüten sie selten, sind aber regelmäßige Sommergäste, wie etwa im Nationalpark Hohe Tauern (Österreich). Die Vögel leben in losen Kolonien. Sie sind reine Felsbrüter und bauen ihre Nester an Felsabbrüchen mit guter Thermik. (Von Meeresniveau in Kroatien bis 2.800 Meter Höhe im Kaukasus). Da Gänsegeier ihr Futter nur mit den Augen, nicht mit dem Geruchssinn suchen, bevorzugen sie offenes und halboffenes Gelände ohne dichten Baumbestand.

Bereits im Januar legen die Weibchen ein Ei, das knapp zwei Monate bebrütet wird. Der Jungvogel bleibt weitere vier Monate im Nest, bevor er fliegen lernt. Gänsegeier werden mit sechs bis acht Jahren geschlechtsreif. Jungvögel wandern aus den Brutgebieten ab und fliegen dabei riesige Gebiete ab (ein in Israel beringter Vogel wurde sowohl im Senegal als auch in Finnland gesehen). In dieser Zeit suchen sich die Jungvögel einen Partner. Dabei sind sie ausgesprochen wählerisch, dafür hält so eine Geierpartnerschaft ein ganzes Leben. Oft kehren die Paare in ihre alten Kolonien zurück.
Gänsegeier an der Vogelwarte Pfänder: Lieber gut gefahren als schlecht geflogen

Gänsegeier sind fantastische Segler – bei guter Thermik sind sechshundert Kilometer Tagesflugleistung für die Vögel kein Problem. Dennoch sind sie „faule Hunde“ und fliegen nur, wenn es die Witterung zulässt und wenn sie wirklich müssen. Satte Geier fliegen nicht. Sind sie richtig vollgefressen, können sie das auch gar nicht mehr. Bis zu zwei Kilo Fleisch kann ein Gänsegeier auf einen Schlag vertilgen. Dann erreicht er ein Gewicht bis elf Kilo. Zu viel, um es noch in die Luft zu hieven. Er bleibt sitzen und verdaut. Wenn akute Gefahr droht, würgt der Vogel einen Teil des Futters wieder aus, um wegfliegen zu können.

Auch bei schlechten Wind- und Thermikverhältnissen bleiben Geier am Boden. Eine Erfahrung, die auch Manuela Seylehner gemacht hat. Fünf Gänsegeier hat sie in der Adlerwarte am Dreiländereck Pfänder. Einmal am Tag dürfen sie frei fliegen. „Manchmal wird einer der Vögel zu tief ins Tal abgetragen“, erzählt sie. „Wenn er zu weit unten landet, kann er bei ungünstiger Witterung nicht mehr starten.“ Bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, gehen die Vögel dann zu Fuß. Sehr zum Amüsement der Spaziergänger hopsen sie mit ihrem seltsam anmutenden Gang den Wanderweg zur Adlerwarte hoch.

„Lieber fahren sie aber mit dem Auto“, meint die Falknerin schmunzelnd. „Der Geier setzt sich an den Straßenrand und wartet, bis wir ihn abholen. Kaum machen wir die Autotür auf, hüpft er auf den Beifahrersitz und macht es sich bequem.“
Überhaupt lassen es Gänsegeier gerne gemütlich angehen. Sind sie nicht zur anstrengenden Jungvogelaufzucht oder zur Nahrungssuche gezwungen, pflegen sie die Kunst des Müßiggangs. Stundenlang dösen sie auf Bäumen sitzend, nehmen Staub- und Wasserbäder und widmen sich hingebungsvoll der Gefiederpflege.
Geier sind für Menschen ungefährlich und reinlicher als ihr Ruf

„Geier sind schmutzig und verbreiten Krankheiten“, lautet ein gängiges Vorurteil über Geier. Zugegeben, nach menschlichen Maßstäben haben Geier schlechte Tischmanieren. Mitunter verschwinden sie ganz oder teilweise im Inneren eines toten Tiers. Nach dem Fressen sind sie entsprechend schmutzig, und die weiße Halsbefiederung ist oft blutrot.
Trotzdem sind Geier reinliche Tiere und putzen sich, sobald sie können. Mit dem Schnabel säubern und glätten sie jede einzelne Feder. Haben sie die Möglichkeit dazu, baden sie regelmäßig.
Als Krankheitsüberträger spielen Geier keine Rolle. Im Gegenteil sorgen sie mit der raschen und hygienischen Beseitigung von Aas dafür, dass sich Krankheiten nicht ausbreiten.

Auch wenn man gelegentlich rechte Schauermärchen über den Aasfresser hört: Geier greifen keine Menschen an.
Obwohl die Vögel allein durch ihre Größe beeindruckend und für zarte Gemüter einschüchternd wirken, sind sie für Menschen ungefährlich. Das gilt auch für Säuglinge und Kleinkinder. Durch ihren Körper- und Schnabelbau sind etwa Gänsegeier gar nicht in der Lage, lebende Beute anzugreifen.
Unser Libellius-Familienplaner “Alles im Blick” mit Portraits von Vögeln. Mit dabei: Der Gänsegeier.
Solche und weitere Vorurteile führten dazu, dass Geier in Deutschland bis in die Sechzigerjahre systematisch vergiftet und schließlich ausgerottet wurden. Seit einigen Jahren kommen die großen Segler auf der Suche nach Futter und neuen Lebensräumen wieder vermehrt nach Deutschland.
Ob der Gänsegeier in Deutschland eine Chance hat, hängt auch davon ab, wie wir den Vogel wahrnehmen: Als schmutzigen Aasfresser oder als Geschenk des Himmels.