Bis zu 99 Kräuter gehörten in einen „Kruutwöösch“. Die gesegneten Sträuße sollten vor Blitzschlag und Krankheiten schützen.
Noch vor hundert Jahren gab es in Ratheim kurz vor Mariä Himmelfahrt einen wahren Wettstreit unter den Jugendlichen. Sie streiften durch die Gemarkung und suchten das geheimnisumwitterte „Lötzjeblaat“. Das Kräutlein, zu Deutsch „Osterluzei“, war ein unverzichtbarer Bestandteil des „Kruutwööschs“, jenes Kräuterstraußes, der bei der Himmelfahrtsmesse am 15. August vom Pfarrer gesegnet wird.
Die geweihten Kräuter sollten Blitze fernhalten und vor Krankheit schützen
Exakt vierzehn Pflanzen gehörten traditionell in einen Ratheimer Kruutwöösch: Wermut, Beifuß, Rainfarn, Großer Wiesenknopf, Blutweiderich, Spargel, Sumpfschafgarbe, Wasserdost, Rispiger Fuchsschwanz, Bandgras und Wiesenschafgarbe. Und die hochbegehrte Osterluzei, die am schwierigsten zu finden war, immerhin war das Kraut in der Ratheimer Gegend gar nicht heimisch. Die aus dem Mittelmeerraum stammende Planze wurde von Mönchen eingeführt und in den Klostergärten angepflanzt. Von dort fand sie wohl den Weg in die Hausgärten und verwilderte mancherorts.
Der Kräuterstrauß wurde napfförmig geordnet und mit ringsum stehenden Blättern des Rohrkolbens umschlossen. In die nestartige Vertiefung in der Mitte kam ein Apfel. Wer den Strauß fehlerfrei und vollständig zusammenbrachte, trug ihn an Mariä Himmelfahrt stolz in die Kirche, um ihn vom Pfarrer segnen zu lassen.
Der Apfel wurde sofort nach der Segnung von den Kindern gegessen. Das Kerngehäuse durfte dabei keinesfalls einfach weggeworfen werden: es gehörte ins Viehfutter.
Der Strauß selbst wurde zuhause im Herrgottswinkel oder neben dem Kreuz getrocknet und aufbewahrt. Übers Jahr halfen die Kräuter gegen allerlei Ungemach: Einige Zweiglein bei schweren Gewittern verbrannt, schützten Haus und Hof vor Blitzschlag. Zerriebene Blätter im Viehfutter schützten es vor Krankheiten und ließen es besonders gut gedeihen. Ein Tee aus den geweihten Kräutern half Kranken zuverlässig, denn der Segen verstärkte die Heilkraft, die den Pflanzen ohnehin innnewohnte.
Kräuterweihe: Der katholische Brauch hat heidnische Wurzeln
Der Brauch der Kräuterweihe ist sehr alt und hat seinen Ursprung vermutlich im heidnischen Brauch des Schutzkräutersammelns. Im 10. Jahrhundert wurde der Brauch christianisiert und mit der Jungfrau Maria in Verbindung gebracht. Durch fromme Legenden wurden der Brauch der Kräutersegnung und das Fest Mariä Himmelfahrt fest miteinander verknüpft. So erzählte man sich, dass die Apostel das Grab Mariens mit Rosen und Lilien angefüllt fanden, und dass die Umgebung vom Duft zahlreicher Heilkräuter erfüllt war. Pflanzen, die den Namen Mariens im Namen trugen (z. B. Mariendistel), waren vielerorts beliebte Bestandteile eines Kräuterbunds.
Auch wenn manches davon abergläubisch klingen mag, so steckt doch in vielem mehr als ein Funken Wahrheit, denn Bauernregeln entstanden auf der Basis jahrelanger, genauer Natur-beobachtung. Viele dieser Bauernregeln sind an "Lostage" geknüpft – Tage, die erfahrungsgemäß eine stabile Wetterlage bringen.
In unserem Libellius-Magazin finden Sie die wichtigsten Lostage für das ganze Jahr, kurze Biographien der Heiligen, welche den Lostagen ihren Namen geben, und eine Auswahl von Bauernregeln.
Obwohl es einige typische Kräuter für den Kräuterstrauß gab, so war die endgültige Zusammensetzung regional sehr unterschiedlich und hing von den geographischen, klimatischen und kulturellen Gegebenheiten ab. Nicht nur die Art sondern auch die Anzahl der Kräuter variierte. Heilige Zahlen und deren Vielfaches spielten bei der Zusammenstellung aber immer eine Rolle: Mindestens sieben verschiedene Pflanzen waren fast überall gefordert. Möglich und üblich waren auch die neun als Dreifaches der Drei, die für die Dreifaltigkeit stand, die Zwölf für die Stämme Israels und die Apostel oder die Vierzehn für die Nothelfer.
„Auch vierundzwanzig, zweiundsiebzig oder gar neunundneunzig Kräuter wurden verwendet“, weiß Ira Schneider, Co-Autorin des Buches „Bergischer Kräher, Dröppelmina und Kronenbaum – Feste und Bräuche im Bergischen Land“. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Margret Wehning hat die Autorin lebendige und neu belebte Bräuche im Bergischen Land aufgespürt und dabei auch intensive Recherchen zur Kräuterweihe angestellt. „Die Kräuterweihe gehört zu den traditionellen Schutz- und Segensbräuchen im Bergischen Land. Genau wie in anderen ländlichen Regionen berief man sich bei allen Widrigkeiten des Alltags gerne auf die heilenden Kräfte der Natur.“
Der Brauch der Kräuterweihe lebt vielerorts wieder auf
Noch bis in die Fünfziger war die Kräutersegnung an Mariä Himmelfahrt in vielen katholischen Gemeinden ein fester Termin im Kirchenjahr. Dann geriet der Brauch allmählich in Vergessenheit. Das mag daran liegen, dass Heilkräuter für die Menschen des 20. Jahrhunderts nicht mehr so wichtig waren wie für ihre Vorfahren – die Medizin hatte viele davon überflüssig gemacht. Ein Wertschätzung alten Wissens und eine Rückbesinnung auf die Heilkraft von Kräutern hat in den letzten Jahre auch dazu geführt, dass der eingeschlafene Brauch mancherorts wieder belebt wurde.
In Roisdorf etwa wurde die Kräutersegnung 1994 wieder aufgenommen. Dass dahinter mehr als museale Nostalgie steht, zeigt die Umsetzung des Brauchs: Bei einer geführten Wanderung werden die Kräuter gemeinsam gesammelt, und auch die Sträuße werden in der Gruppe gebunden – das ist ein intensives Gemeinschaftserleben, das in der gemeinsam gefeierten Messe seinen Höhepunkt findet. Fern von heidnischem Aberglauben und über die christliche Tradition hinweg gewinnt das Fest der Kräuterweihe so eine neue Bedeutung.