Im 18. Jahrhundert war das Lautertal eine Hochburg der Weinbergschnecken-Zucht. Jetzt kehrt die „Schwäbische Auster“ zurück. Langsam, wie es sich gehört.
Der Morgen ist trüb, kalt und ungemütlich. Bodennebel hängen über den Wiesen, und die Herbstsonne will sich nicht zeigen. Ein Tag, wie geschaffen, um ihn im Haus zu verbringen. Die Weinbergschnecke, die Rita Goller aus dem Moos im historischen Schneckengarten in Weiler bei Indelhausen hebt, ist offenbar der selben Meinung. Sie zeigt keinerlei Ambitionen, ihr Haus zu verlassen. Die Schneckenzüchterin lässt sich davon nicht beeindrucken.
„Die kommt gleich raus“, beteuert sie und setzt die Schnecke auf ein Holzbrett. Die Schnecke denkt gar nicht dran. Vielleicht hat sie die Ankündigung nicht gehört, immerhin haben Weinbergschnecken keine Ohren. Es heißt warten. Wer Schnecken beobachtet, braucht Geduld.
Die Albschnecke und die Entdeckung der Langsamkeit
Rita Goller nutzt die Zeit, um ein wenig zu erzählen, wie sie auf die Schnecke kam. „1999 habe ich die Ausbildung zum Alb-Guide gemacht“, erinnert sie sich. „Jeder hat versucht, eine besondere Tour zusammenzustellen. Burgen und Höhlen, Wasserfälle und Giftpflanzen zählten dabei zu den Themen. Ich entschied mich für Schneeschuhlaufen im Winter und Schneckenzucht im Sommer. Immerhin hat die Schneckenzucht im Lautertal eine lange Geschichte.“
Sie arbeitete sich in die Materie ein, wälzte alte Aufzeichnungen von Züchtern und Händlern und war mehr und mehr fasziniert von den Kriechtieren. 2002 traf sie bei einer ihrer Führungen Professor Roman Lenz von der Fachhochschule Nürtingen. Das war der Startschuß für das Projekt Albschneck. Zwei Jahre später wurde der historische Schneckengarten in Weiler bei Indelhausen gebaut, erste Kleingärten wurden eingerichtet, die Albschnecke als eingetragenes Markenzeichen etabliert. Als Albschnecke gelten nur heimische Weinbergschnecken, die mindestens ein Jahr lang in extensiver Haltung (maximal zwanzig Schnecken pro Quadratmeter; im Gegensatz von bis zu hundert in konventionellen Großzuchten) aufgezogen und überwiegend mit Wildpflanzen gefüttert werden.
Denn erst die Kräuter geben der Schnecke ihren Geschmack. „Die Schnecke ist, was sie frisst“, bringt es Rita Goller auf den Punkt. „Zuchtschnecken, die mit Kleie, Hühnerfutter oder industriell hergestellten Futtermitteln gemästet werden, schmecken nach gar nichts, höchstens nach der Knoblauchbutter, mit der sie serviert werden. Die Albschnecke hingegen wird traditionell ohne geschmacksintensive Gewürze gegessen, damit der Eigengeschmack zur Geltung kommt.“ Auf der Slow-Food-Messe in Turin wurde die Albschnecke 2006 von einem offiziellen Gastkritiker als „besonders gelungene Enthüllung“gelobt.
Nach altem Vorbild werden ausschließlich Deckelschnecken vermarktet
Auch Frühlings- und Sommerschnecken schmecken nach Rita Gollers Aussage nicht besonders. „Im Frühjahr sind die Schnecken nach der Winterruhe geschwächt und haben nur wenig Speck“, erläutert sie. „Und Spätsommerschnecken können Sie als Zahnpasta verwenden. Wenn die Schnecke mit der Produktion des Epiphragmas (= Kalkdeckel, mit dem die Schnecke im Winter ihr Haus verschließt) beginnt, sammelt sich Kalk im Körper. Im schlimmsten Fall knirscht der zwischen den Zähnen.“
Bei der Vermarktung ihrer Schnecken setzt sie daher auf die Spargelphilosophie. „Wie Spargel sollten auch Schnecken nur saisonal angeboten werden“, sagt sie. „Und diese Saison ist der Winter. Dann sind die Schnecken fettgefressen und der Kalkgehalt im Fleisch ist am geringsten.“ Noch einen anderen Punkt spricht sie an.
„Deckelschnecken sterben einen schnellen Tod im Schlaf“, sagt sie. „Sie werden in kochendem Wasser getötet, in einer Zeit, in der ihre Kreislauffunktionen auf ein Minimum reduziert sind.“ In großen Zuchtbetrieben ist das anders, hier wird ganzjährig „geerntet“. Werden Schnecken in ihrer aktiven Zeit vermarktet, muss vor der Weiterverarbeitung und dem Verkauf ihr Eingeweidesack geleert werden. Im Klartext heißt das, dass die Schnecken etwa drei Wochen lang ausgehungert werden. Danach werden sie mit Salz entschleimt. Zu diesem Zeitpunkt leben die Tiere noch.
Schneckenzucht: Produktion einer Delikatesse oder Tierquälerei?
Schneckenschützer Peter Leonhardt zieht gegen solche Maßnahmen ins Feld. „Das ist eine Tortur für die Schnecken und Tierquälerei höchsten Grades“, sagt er. „Nur, weil eine Schnecke nicht laut schreit, heißt das nicht, dass sie keinen Schmerz empfindet. Sie ist genauso leidensfähig wie jede andere Kreatur.“ Er und seine Frau Karin fordern ein generelles Verbot der „fragwürdigen Delikatesse“ und setzen sich für den Schutz der Schnecke ein.
Inspiriert von der Idee des Whale-Watching haben sie die Initiative „Snail-Watching“ ins Leben gerufen. „Schnecken zu beobachten ist besser, als Schnecken zu essen“, sagt Peter Leonhardt. „Wir können eine Menge von diesen aggressionsfreien Tieren lernen. Etwa, dass sich fast jedes Hindernis überwinden lässt, wenn man es zielstrebig und langsam angeht. Gerade der Umgang mit den zarten und zerbrechlichen Jungschnecken lehrt uns zudem ein behutsames und achtsames Verhalten.“
Die Zucht von Schnecken für den Verbrauch ist ein kontrovers diskutiertes Thema und wird es wohl bleiben. Einerseits findet sich die Weinbergschnecke zunehmend auch in der deutschen Küche als Delikatesse wieder, anderseits werden Stimmen laut, die Schneckenzucht als unnötig und grausam bezeichnen und die Schnecke von der Speisekarte ganz gestrichen sehen wollen. Letztlich bleibt es wohl jedem Einzelnen überlassen, sich zu informieren und sich ein Bild zu machen.
Eine Schneckenbeobachtung sollte in diesem Bild nicht fehlen. Schon eine Stunde reicht, um die Tiere bewusster und sensibler wahrzunehmen. Beim ein oder anderen setzt die direkte Begegnung mit dem Meister der Entschleunigung vielleicht auch ein Umdenken im Umgang mit dem „schleimigen Kriecher“, dem „Gartenschädling“ und der „Delikatesse“ in Gang. In großem Maßstab wird dieses Umdenken, wenn überhaupt, nur langsam vonstatten gehen. Denn auch eine Geisteshaltung verändert sich bekanntlich nur im Schneckentempo.