„Wie lange dauert es noch bis Weihnachten?“ – Wie oft haben Sie das als Kind gefragt? Wie oft werden oder wurden Sie das von Ihren Kindern gefragt? Der Theologe und Erzieher Johann Hinrich Wichern hat diese Frage mit Sicherheit sehr oft gehört. So oft, dass er 1839 den Adventskranz erfand, um den Waisen- und Straßenkindern, die er im „Rauhen Haus“ in Hamburg versorgte, die Wartezeit bis zum Heiligabend sichtbar zu machen.
Groß wie ein Wagenrad: Der Wichernsche Adventskranz
Ein Wagenrad (anderen Quellen zufolge war es ein Kronleuchter) diente Wichern als Basis. Darauf befestigte er vier große, weiße Kerzen – eine für jeden Adventssonntag. Hinzu kam eine kleine rote Kerze für jeden Wochentag des Advents.
Weil der Advent in der Liturgie nicht am 1. Dezember beginnt, sondern mit dem Vorabend des ersten Adventssonntags, kann er zwischen zweiundzwanzig und achtundzwanzig Tagen lang sein – entsprechend unterschiedlich ist dann auch die Anzahl der benötigten Kerzen..
Die Kinder in Wicherns Obhut durften jeden Tag eine Kerze entzünden. Die verbleibende Zeit bis Weihnachten wurde auf diese Weise plastisch dargestellt und be-greif-bar. Ganz nebenbei lernten die Kinder aus eigenem Antrieb das Zählen. Zumindest bis ungefähr fünfundzwanzig …
Ab 1860 wurde der Kranz mit Tannengrün geschmückt. Ein solcher „Wichernscher Kranz“ hängt bis heute zur Adventszeit im Kirchenraum der Hamburger Sankt-Michaelis-Kirche und auch im „Rauhen Haus“.
Der Originalkranz hatte einen Durchmesser von ungefähr zwei Metern – die Größe war nicht nur notwendig, weil so viele Kerzen Platz finden mussten, sondern auch, weil ein Kranz mit mehr als zwanzig Kerzen eine viel größere Hitze produziert, als man meinen würde. Immerhin erreicht eine Kerzenflamme Temperaturen von bis zu 1400 Grad …
Das ist auch der Grund, warum Adventskränze lange nur in Kirchen und großen öffentlichen Räumen aufgehängt wurden: Sie waren (und sind …), nach Wichernscher Art gebaut, einfach viel zu groß für einen normalen Haushalt.
Ein Adventskranz mit vierundzwanzig Kerzen hängt Jahr für Jahr in Mariazell: Mit einem Durchmesser von zwölf Metern und einem Gewicht von neun Tonnen gilt er als „weltweit größter hängender Adventskranz“.
100 Jahre später: die Katholiken entdecken den Adventskranz für sich
Knapp hundert Jahre nach Wicherns Erfindung wurde zum ersten Mal ein Adventskranz in einer katholischen Kirche aufgehängt: Das war 1925 in Köln. 1930 hatte der Adventskranz München erreicht. Die Kerzenzahl hatte sich mittlerweile auf vier Stück reduziert, und der Adventskranz tauchte immer häufiger auch in privaten Haushalten auf.
Das ursprünglich rein evangelische Symbol wurde überkonfessionell – er fand weit schneller und müheloser Einzug in katholisch geprägten Familien, als der Weihnachtsbaum, dem die besonders die deutschen Katholiken viel Widerstand entgegenbrachten.
Der Kranz hingegen verträgt sich gut mit der katholischen Liturgie: An Weihnachten kommt Jesu Christi als „Licht der Welt“ auf die Erde. Die sukzessive angezündeten Kerzen am Adventskranz verkörpern die Zunahme des Lichts und symbolisieren die größer werdende Hoffnung und Vorfreude auf Jesu Geburt.
Die Kreisform ohne Anfang und Ende steht je nach Deutung für das ewige Leben, die Auferstehung und den Erdkreis – die vier Kerzen für die vier Jahrtausende, die nach früher Auffassung zwischen dem Sündenfall und der Geburt des Erlösers vergingen, oder auch für die vier Himmelsrichtungen.
Auch die Farben haben ihre Symbolik: Grün steht für Hoffnung (auf Frühling und Leben), Auferstehung und ewiges Leben. Rote Kerzen symbolisieren die Liebe Jesu. Gebietsweise ist es üblich, den Adventskranz mit drei violetten und einer rosa Kerze zu schmücken, wobei die rosarote Kerze am dritten Adventssonntag entzündet wird. Die Farbwahl richtet sich hier nach den liturgischen Farben des Advents.
Natürlich gibt es auch für die Reihenfolge des Kerzenanzündens Traditionen: entzündet werden nebeneinanderliegende Kerzen, entgegen des Uhrzeigersinns. Am zweiten Advent die gegenüberliegende Kerze zu entzünden, gilt in dieser Tradition als Faux pas.
Sonnenrad und Lichterkranz: Von wegen „germanische Wurzeln“ …
Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde der Adventskranz kurzerhand zum „Sonnwendkranz“ oder „Lichterkranz“ umbenannt. Als Deko-Elemente dienten Wikingermotive und Sonnenräder. Die Nazis waren es auch, die das Gerücht in die Welt setzten, der Adventskranz gehe eigentlich auf einen germanischen Brauch zurück, den die Kirche nur übernommen habe, und den sie, die Nationalsozialisten, nun wieder zu seinem Ursprung zurückführten.
Das ist falsch – Wichern war tatsächlich der erste, der den gar nicht so alten Brauch einführte. Allenfalls findet sich ein Vorläufer des Kranzes im frühen Mittelalter: Damals konnten sich Mägde und Knechte auf das ungeschriebene Gesetz berufen, bei bitterer Winterkälte nicht im Freien arbeiten zu müssen. Der Wagen, mit dem man aufs Feld fuhr, kam in die Scheune, ein Rad wurde abmontiert und im Dachfirst oder im Hausinneren über dem Kamin aufgehängt.
Als Zeichen der Hoffnung auf die Wiederkehr des Frühlings wurde das Rad mit immergrünen Zweigen geschmückt. Diese Tradition, im Winter immergrüne Zweige ins Haus zu holen, hat tatsächlich Wurzeln in der keltischen und auch römischen Kultur – aus diesen ursprünglich heidnischen Riten ist der Weihnachtsbaum entstanden.
Heute ist der Adventskranz für viele kein tief religiöses Symbol mehr, sondern einfach ein schöner Dekogegenstand, der zur Vorweihnachtszeit dazu gehört. Neben dem traditionellen Kranz gibt es zahlreiche Varianten: Gestecke, Türkränze, Teller mit Weihnachtsdekoration und Kerzen oder einfach „nur“ vier schlichte Kerzen, deren Licht Festlichkeit und Heimeligkeit verbreiten.