Spinnenseide ist dehnbarer als Gummi und fester als Stahl. Sie könnte bald kugelsichere Westen leichter machen und beschädigte Nervenzellen ersetzen.
Wenn Spinnen spinnen, werden Forscher neidisch. Denn was die Herstellung reißfester, dehnbarer und zugleich hauchdünner Netze angeht, lassen sich Spinnen nichts vormachen. Ihre raffinierten Fanganlagen sind die Antwort der Evolution auf die Flugfähigkeit der Insekten, ihre Fäden belastbarer als Stahl und dabei dehnbarer als Gummi.
Spinnenfäden sind etwa acht- bis zehnmal dünner als ein menschliches Haar und wiegen fast nichts. Einmal um die Erde gespannt brächte einer der seidenen Fäden keine zweihundert Gramm auf die Waage. Erst bei einer Länge von siebzig bis achtzig Kilometern würde er unter seinem Eigengewicht reißen – ein vergleichbar dünner Stahlfaden bei zehn bis dreißig Kilometern. Theoretisch könnte eine ehrgeizige Spinne mit ihrem Faden die Hochseeinsel Helgoland mit Bremerhaven verbinden.
Durch diese Kombination aus Stabilität und Dehnbarkeit erreicht Spinnenseide in punkto Belastbarkeit Maximalwerte. Sie kann, bevor sie reißt, dreimal mehr kinetische Energie aufnehmen als zum Beispiel Kevlar, eines der stabilsten bekannten synthetichen Fasermaterialien.
Verwendung von Spinnenseide als Fadenkreuz und Fischernetz
Die einzigartigen Eigenschaften der seidenen Fäden haben Menschen schon früh zur Nutzung des Biomaterials inspiriert. Mit größtem Aufwand wurden im Mittelalter kleine Stoffstücke wie Schals aus Spinnenseide gewoben. Diese extrem teuren Statussymbole demonstrierten Reichtum und Macht ihrer Besitzer.
Bis zum zweiten Weltkrieg wuden Spinnenseidenfäden wegen ihres geringen Durchmessers und ihrer hohen Belastbarkeit zur Herstellung von Fadenkreuzen für U-Boote und Flugzeuge verwendet. Eine besondere Anwendung der Seide findet sich bis heute auf den polynesischen Solomon-Inseln. In Bambusrahmen gesetzt spinnen die dort lebenden Seidenspinnen bis zu sechs Quadratmeter große Netze. Die eingeborenen Fischer haben die Spinne längst als ungewöhnliches Nutztier entdeckt und verwenden die so erzeugten Kescher zum Fischfang.
Forscher arbeiten mit Hochdruck daran, Spinnenseide biotechnologisch herzustellen. Das Biomaterial könnte überall dort eingesetzt werden, wo die Kombination von Stabilität, Dehnbarkeit und geringem Gewicht erwünscht ist. Etwa in der Raumfahrttechnologie, im Brückenbau oder zur Herstellung leichter kugelsicherer Westen und dehnbarer Fangseile für Flugzeugträger. Auch profanere Einsatzgebiete sind denkbar: Strumpfhosen, Fallschirme oder Kletterseile.
Erste Erfolge in der biotechnologischen Herstellung der Seide
Dem Biochemiker Prof. Dr. Thomas Scheibel und seinem Team von der Universität Bayreuth ist es gelungen, das Seidenprotein, den Grundbaustein der Fäden, biochemisch herzustellen. Auf diese Weise können bereits hauchdünne Oberflächenbeschichtungen, biologisch rückstandslos abbaubare Kapseln für Medikamente und Seidenfilamente in Form von Vliesstoffen hergestellt werden. Nur die Produktion der Seidenfäden gelingt noch nicht zufriedenstellend.
Was die Spinne mit Links macht, ist nicht so einfach nachzuahmen, denn das Protein liegt in den Spinndrüsen in wässriger Lösung vor. Erst durch komplexe chemische Vorgänge im Spinnkanal, das gleichmäßige Herausziehen aus der Spinnwarze und die daraus resultierende Ausrichtung der Seidenproteine wird daraus ein stabiler, dehnbarer Faden.
„Die dafür benötigte genaue Abstimmung von chemischen Prozessen in Kombination mit einem kontinuierlichen Zugmechanismus stellt Wissenschaftler und Ingenieure vor eine große Herausforderung: Kein in der Industrie etabliertes Spinnverfahren lässt sich dafür adaptieren und anwenden“, erklärt Scheibel. Er ist dennoch zuversichtlich. „Bei der derzeitigen Entwicklung ist aber abzusehen, dass rekombinante Seidenproteine demnächst Einzug in neuartige Produkte und damit ins tägliche Leben halten werden.“ 2010 ist es ihm in Zusammenarbeit mit einem Team der TU München gelungen, das Geheimnis des komplizierten Spinnvorgangs aufzuklären. Ein wichtiger Durchbruch für die Spinnenseidenforscher.
Leben am seidenen Faden: Spinnenseide als Ersatz für beschädigte Nerven
Die Fortschritte seiner Arbeit werden auch von Seiten der Medizin mit großem Interesse verfolgt. Schon Römer und Griechen der Antike verwendeten Spinnenseide als Verbands- und Nahtmaterial. Die Seidenfäden sind leicht antiseptisch, biologisch komplett abbaubar und biokompatibel. Dadurch lösen sie keine Abstoßreaktion des Immunsystems aus. Bis Spinnenseide in zufriedenstellender Qualität und Menge biotechnologisch hergestellt werden kann, gibt es für ihre Gewinnung allerdings nur eine etwas gewöhnungsbedürftige Methode – das Melken von Spinnen. Dazu werden die betäubten Tiere unter einer Gaze fixiert, der Faden mit einer eigens entwickelten Spule herausgezogen. 150 bis 200 Meter Seide lassen sich so „ernten“.
Für die beiden Spinnenforscherinnen Christina Allmeling und Dr. Kerstin Reimers-Fadhlaoui gehört das Melken der Goldenen Radnetzspinnen (Nephila clavipes) zum Laboralltag. An der Medizinischen Hochschule Hannover erforschen sie seit 2004 die Einsatzmöglichkeiten von Spinnenseide in der Neurochirurgie. 2007 wurde Christine Allmeling für ihre Arbeit mit dem Innovationspreis der deutschen Bioregionen ausgezeichnet.
Werden bei einem Unfall Nervenzellen an Gliedmaßen oder im Gesicht durchtrennt, bleiben diese Partien oft gefühllos, obwohl periphere Nerven von Natur aus regenerationsfähig sind. Bei großen Defekten finden die Nervenzellen aber oft nicht mehr zusammen und sprießen in die falsche Richtung. Am Nervenstumpf bildet sich Narbengewebe. Ein Transplantat aus Spinnenfäden, auf die Nervenenden aufgepfropft, weist nachwachsenden Nerven den Weg und wird zur Rettungsleine fürs Gefühl. Erfolgreiche Versuche mit Ratten lassen die Wissenschaftlerinnen hoffen, dass menschliche Nerven bald am seidenen Faden hängen könnten.
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