Die mystische und bunte Welt der Vogelscheuchen

Sie machen Krach, wehen im Wind, bekommen ein Gehirn, sind Sündenbock und Bösewicht. Nur eins tun Vogelscheuchen nicht: Vögel wirklich zuverlässig fernhalten.

Seit etwa zwölftausend Jahren bewirtschaften Menschen ihre Felder und betreiben gezielten Ackerbau. Seit etwa zwölftausend Jahren schmälern Vögel den Ernteertrag, und seit vermutlich zwölftausend Jahren sind Landwirte deswegen mehr als ein bisschen genervt. Und weil Genervtheit gerne mal Kreativität freisetzt, sind die ersten Vogelschreck-Anlagen vermutlich auch nicht wesentlich jünger als zwölftausend Jahre. Die „Zutaten“ für eine Vogelscheuche sind in der ganzen Zeit praktisch gleich geblieben: Sonne, Wind und Zeugs.

 

Vogelscheuche
Der Klassiker: Eine menschenähnliche Figur aus Holzstangen und alten Kleidungsstücken. Ihre Silhouette soll den Vögeln vorgaukeln, dass ein echter Mensch auf dem Feld steht, und nichts Gutes im Schilde führt. Das zusätzliche Flattern der Tücher und das Klappern der Blechnäpfe im Wind, soll die abschreckende Wirkung verstärken, aber besonders effektiv sind solche Vogelscheuchen eher nicht. Dennoch haben sie sich über die Jahrhunderte gehalten und werden weltweit in ähnlicher Form eingesetzt – in asiatischen Reisfeldern oder als „scarecrows“ auf amerikanischen Maisfeldern. Einen gewissen Nutzen scheinen sie also zu haben – und sei es nur das gute Gefühl, etwas unternommen zu haben. Als „Vater der Vogelscheuchen“ könnte man übrigens den griechischen Gott Priapos betrachten: Die missgestaltete, hochpotente Fruchtbarkeitsgottheit mit dem auffallend großen Phallus war der Beschützer der Früchte, Bienen und aller Lebewesen und Pflanzen, die von Menschen gezüchtet und genutzt wurden. Seine Statue wurde in Gärten und Feldern platziert, um diese vor Vandalen und Dieben (menschlichen und tierischen) zu schützen. Die heute üblichen Vogelscheuchen und Gartenfiguren könnte man als moderne Adaption der damaligen Zurschaustellung von Fruchtbarkeitssymbolen betrachten. Auch wenn moderne Vogelscheuchen für gewöhnlich vollständig bekleidet und eher bieder sind.

 

 

Raben und Krähen
Saatgutpickende Vögel wurden als Futterkonkurrenten verfolgt: Es traf besonders Vögel, die in großen Gruppen auftauchen, wie Spatzen, Stare oder Ringeltauben – gerne landeten diese Vögel im Kochtopf. Ganz besonders unbeliebt war (und ist) die Gruppe der Rabenvögel. Wenn sich Saatkrähen, Kolkraben oder Dohlen im Schwarm über ein Feld hermachen, können die Schäden beträchtlich sein. Vor allem bei Maisfeldern beklagen Landwirte gebietsweise große Ernteverluste. Die schlauen Vögel sind nicht so leicht zu vertreiben: Flatterbänder und klassiche Vogelscheuchen werden von den Vögeln schnell als harmlos eingestuft, Schreckschussanlagen sind zwar einigermaßen effektiv, aber wegen der Lärmbelästigung in der Kritik, Hagelnetze werden von den kräftigen Schnäbeln einfach durchgepickt.

 

Früher war es daher üblich, einige der ungeliebten Krähen zu erschießen, und ihre Kadaver an Krähengalgen auf den Feldern aufzuhängen. Das soll lebende Krähen effektiv fernhalten. Heute ist die Bejagung von Raben und Saatkrähen grundsätzlich verboten – dennoch sieht man gelegentlich noch Krähengalgen in Obstplantagen oder auf Feldern stehen. Allerdings nur selten, und meist nicht lange: Sobald solche makaberen Gebilde von Spaziergängern entdeckt werden, gibt es für gewöhnlich Proteste, die mit der zeitnahen Entfernung der Krähengalgen enden. (Foto verweist auf: Wikipedia.org)

 

Vogelscheuche mit Hühnern
Der Gewöhnungseffekt ist ein grundlegendes Problem für die Wirksamkeit von Vogelscheuchen. Vögel begreifen sehr schnell, dass von diesen Gestalten keine wirkliche Gefahr ausgeht – egal, ob es sich dabei um Spatzen, Krähen oder Hühner handelt. Um dem entgegenzuwirken wird empfohlen, die Scheuche regelmäßig zu versetzen und zu verändern. Vielleicht darf die Scheuche auch einfach nicht so freundlich und gut gelaunt gucken?
Vogelscheuche, Windrad mit CDs
Bewegung und Lichtreflexe: Ein alter Fahrradreifen dient als Windrad und Vogelschreck. Die CDs zwischen den Speichen erzeugen in der Sonne Lichtreflexe, die sich ganz von selbst verändern, wenn das Rad sich im Wind bewegt. In der Einfahrt eines Reiterhofs aufgestellt, wirkte es in den ersten Tagen nicht nur gegen Vögel, sondern auch gegen die dort lebenden Pferde – diese fanden das ominöse Gebilde vermutlich sogar viel gruseliger als die Vögel …

 

Vogelscheuche Drache
Ein Drache an einer langen, biegsamen Stange: Vogelattrappen sollen ganz besonders erfolgreich im Vertreiben von Vögeln sein. Das zumindest behaupten die Hersteller solcher Vogelscheuchen in Drachenform. (Krähen lachen auch darüber.) Solche Modelle werden auch eingesetzt, um Hühner und Kleintiere vor Raubvogel-Angriffen zu schützen.

 

Drachen
Ob der Vogelschreck-Drache einen Raubvogel imitiert, oder ob ein Weihnachtsbaum und ein Skelett an der Stange hängen, ist im Grunde unerheblich – Hauptsache, es flattert ordentlich im Wind.

 

Drachen
Bewegt sich nicht nur im Wind, sondern macht auch Krach, und zwar gewaltig: Der Klapotetz diente in den Weinbergen der Steiermark und Sloweniens als Vogelschreck. Für seinen Bau werden vier verschiedene Holzarten verwendet: Esche (oder Kastanie) für den Korpus, Fichte (auch Tanne oder Lärche) für die Flügel, Buche für die Klöppel. Manchmal kommen auch Akazie, Birne, Linde, Eiche oder Vogelkirsche zum Einsatz. Das Schlagbrett muss zwingend aus (Kornell)Kirsche sein – nur dieses Holz erzeugt die typischen schrillen Töne, und wahrscheinlich auch Töne im Ultraschallbereich, die für Vögel unangenehm sind. Die Erschaffung des Klapotetz soll auf einen jung verstorbenen steirischen Weinbauern zurückgehen: Der rechtschaffene junge Mann wurde von Gott befragt, wie es sich im Weinland leben ließe. Sehr gut, immerhin hätte sich Gott bestimmt viel Zeit für die Erschaffung genommen, erwiderte der Winzer. Einzig die Stare trübten das Glück, da sie die Weintrauben fräßen. Da wurde Gott nachdenklich, strich sich bedächtig über den Bart, gestand ein, dass auch der Herrgott bei der Schöpfung mal etwas übersehen könne, und schickte den jungen Mann zurück auf die Erde, damit er eine klappernde Windmühle baue, die am Jakobitag aufgestellt und nach Allerheiligen wieder abgebaut werden solle. Und so ist es bis heute, auch wenn mancherorts die Klapotetze das ganze Jahr im Weinberg bleiben. Das hier gezeigte Modell zum Nachbauen eines funktionsfähigen Klapotetz gibt es bei Woodheroes*. Mit dem Code „LIBELLIUS“ erhalten Sie beim Kauf fünf Prozent Rabatt.

 

Vogelscheuche Andalusien
Das Menschenähnliche lässt Vogelscheuchen immer auch ein wenig gruselig wirken. Sie sind nicht nur Beschützer der Felder, sondern auch Schimpfwort für Außenseiter, schauderliche Halloween-Dekoration und manchmal auch gefährlicher Gegner: Als „Scarecrow“ versetzt der verrückte Ex-Psychiater Jonathan Crane die Bevölkerung von Gotham City in Angst und Schrecken, und spielt dabei geschickt mit den ganz persönlichen Ängsten seiner Opfer. Der Superschurke wurde 1941 von Autor Bill Finger in die Batman-Comic-Welt eingeführt und entwickelte sich (mit Pausen) zu einem der wichtigsten Widersacher Batmans. In einem Ranking von 2009 belegte Scarecrow Platz 58 der „besten fiktiven Bösewichte“.

 

Vogelscheuche
Weit freundlicher und liebenswerter ist eine andere literarische Vogelscheuche: Der Strohmann aus dem Kinderbuchklassiker „Der Zauberer von Oz“ wünscht sich nichts sehnlicher, als ein Gehirn in seinem strohgefüllten Kopf. Obwohl er im Verlauf der Erzählung mehrmals kluge Entscheidungen trifft, kann er nicht glauben, dass er klug ist. Der Zauberer von Oz, nicht mehr als ein geschickter Illusionist, und mitnichten in der Lage, der Vogelscheuche ein Gehirn in den Kopf zu zaubern, erkennt, dass es weniger eine Frage der Klugheit, als vielmehr eine des Selbstvertrauens ist. Also bastelt er aus ein paar Stoffstücken ein „Gehirn“, das er der Vogelscheuche einpflanzt. Und weil Denken manchmal weh tut, steckt er ein paar Nadeln in den Stoffklumpen. Die Vogelscheuche hat zwar fortan gelegentlich Kopfschmerzen, ist aber glücklich und zufrieden mit ihrem funkelnagelneuen, prima funktionierenden Gehirn.

 

Vogelscheuchen, Scarecrow Festival Cambria
Hässliche Vogelscheuchen? Nicht, wenn es nach dem Feingeist Ambrosius in Ludiwig Tiecks Novelle „Die Vogelscheuche“ geht. „Schon oft sprach ich mit meinen Mitbürgern. Ist es nicht eine Schande, sagte ich zu ihnen, daß ihr diese abscheulichen Lumpen, diese garstigen Fetzen, die so schauerlich im Winde wehen, in eure Felder zum Skandal gebildeter Vorüberreisenden hinstellt? Diese Gebilde, Vogelscheuchen, Gescheuche, oder Gescheche, wie sie der gemeine Mann nennt, machen unserm Nationalgeschmack die allergrößte Schande, sie verscheuchen weit mehr Bildung, Sitte und Kunst, als jene Sperlinge und Krähen, gegen welche sie aufgerichtet sind“, wettert Ambrosius und stellt einen wahren Adonis aus gegerbtem Leder und mit elfenbeinernen Augen in seinen Vorgarten. Seine Mission: Die Kunst unter das Volk, und den Kunstverstand in die Köpfe seiner Mitbürger zu bringen. Unter tatkräftiger Mitwirkung künstlerisch wertvoller Vogelscheuchen.

 

Vogelscheuche, Scarecrow Festival Cambria
Doch ach, oh weh, Ambrosius‘ wunderbare Vogelscheuche verschwindet. Geraubt, entwendet, gestohlen, das edle Stück! Der Kunstliebhaber verfällt ob dem Verlust in schlimme Depressionen; seine Tochter, die sich unsterblich in die Vogelscheuche verliebt hat, in eine schreckliche Melancholie. Es gibt viel hin und her, Vorwürfe und Wehklagen, Beschuldigungen und Misstrauen, einen geheimnisvollen Fremden, der im Verdacht steht, die Scheuche geraubt oder aber beseelt zu haben, und eine Reihe weiterer Komplikationen. Am Ende aber verliebt sich die Tochter in den Fremden, gesteht ihm in der Hochzeitsnacht ihre unsterbliche Liebe zur Vogelscheuche, und erfährt, dass der Fremde in der Tat ein Geist ist, der in die Vogelscheuche gefahren und sie zum Leben erweckt hat. Auch falls er gelogen haben sollte, ist das Glück für Ambrosius und seine Tochter damit perfekt – für die Vogelscheuche zumindest insoweit, dass sie nicht nur die Hand der Tochter, sondern auch das gesamte Vermögen Ambrosius‘ erhält. Die hier gezeigte Vogelscheuche war 2014 Teil des Scarecrow Festivals in Cambria auf der es einen fast ebenso romantischen Heiratsantrag gab.

 

Scarecrow Festival in Cambria
Das Scarecrow Festival in Cambria ist jedes Jahr im Herbst ein beliebtes Spektakel in der kleinen kalifornischen Stadt nördlich von Los Angeles. Als das Festival 2009 ins Leben gerufen wurde, waren es gerade einmal dreißig Vogelscheuchen, die sich über den Ort verteilten. Heute sind es an die fünfhundert, die von den Einheimischen mit viel Fantasie, Kreativität und Liebe zum Detail hergestellt werden. Literarische und filmische Figuren liefern dabei klassische Inspiration, aber …

 

Scarecrow Festival Cambria, Vogelscheuchen
… die Vogelscheuchen werden auch genutzt, um auf aktuelle politische oder gesellschaftliche Themen wie die akute Wasserknappheit aufmerksam zu machen.

 

Funkenfeuer mit Hexe, Wikipedia
… und am Ende brennt sie lichterloh: Den Brauch, menschenähnliche Figuren und/oder Vogelscheuchen zu verbrennen, gibt es vielerorts: Im schwäbisch-alemannischen Raum stellt die Puppe den Winter (alternativ die Fasnet) dar und wird zum Ende des Faschings und zu Beginn der Fastenzeit verbrannt. Der Brauch geht weit ins Mittelalter zurück und ist auch im ostslawischen Raum zu finden (Maslenzia-Fest). Erst seit 1950 wird auch im rheinischen Karneval eine Strohpuppe verbrannt: Der Nubbel, der pauschale Sündenbock für alle. Alle zwei Jahre, zur Zeit der Weinlese, wird im französichen Morges die Nacht der Vogelscheuche gefeiert – letztere wird unter dem Jubel der Besucher verbrannt. In Ecuador wird die Vogelscheuche an Silvester verbrannt – und mit ihr stellvertretend alle Fehler und alles Unglück des vergangenen Jahres. Im sächsischen Bauda gab es kräftigen Streit um das Verbrennen einer „Hexe“ in der Walpurgisnacht: Vom Ortschaftsrat als nicht mehr zeitgemäß untersagt, verbrannten die Einheimischen dennoch eine Vogelscheuche auf dem Scheiterhaufen. Wie auch immer man zu dem makaber anmutenden Brauch stehen mag: Die Vogelscheuche nimmt es – vermutlich – ebenso stoisch hin, dass sie als Symbol und Sündenbock verbrannt wird, wie sie ihren Dienst auf den Feldern in Wind und Regen, Sonne und Sturm verrichtet. (Foto verweist auf: Wikipedia.org)

 

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