Ein viktorianischer Landvermesser führt asiatisch anmutende Pagodendächer als Wahrzeichen schottischer Whisky-Destillerien ein und ersetzt damit den bis dahin gängigen Kardinalshut: Nicht nur die Geschichte der Whiskyherstellung steckt voller Überraschungen.
Ich kann eine Landkarte lesen, und ich kann mich anhand dieser Landkarte im Gelände orientieren, ohne die Karte in Fahrtrichtung drehen zu müssen. Mehr noch: Ich kann mir anhand einer guten Landkarte die Gegebenheiten der Landschaft vorstellen, ohne je dort gewesen zu sein. Obendrein kenne ich die typischen Kartenzeichen und muss nicht überlegen, ob das Symbol auf der Karte oder auf dem Straßenschild für eine Burg, ein Schloss oder ein Kloster steht, und ob dieses Was-auch-immer intakt ist oder eine Ruine.
Speerspitzen, Druidenhüte und Pagodendächer
Ich kann das. Ich. Als Frau. Es muss ein schwerer Gendefekt sein, und ich bin sehr stolz darauf. Deswegen bin ich auf Reisen immer der Navigator, und ich bin sehr gut darin. Mit mir an Bord wäre Columbus schnurstracks nach Indien gefahren und hätte niemals Amerika entdeckt, was vielleicht für alle ein Segen gewesen wäre.
Und dann kommen wir nach Schottland, und ein rätselhaftes Straßenschild untergräbt mein Selbstbewusstsein und weckt meine Fantasie. Diese Schilder stehen überall, sie sind mit verheißungsvollen Namen wie „Glenfarclas“ oder „Cardhu“ beschriftet, sie sind braun, was entschieden auf eine Sehenswürdigkeit hinweist, und auf allen ist ein seltsames Ding abgebildet, das mich an eine Speerspitze oder einen Druidenhut erinnert.
Welche Wunder es da zu besichtigen gibt? Ich weiß es nicht, und weder Karte noch Reiseführer wollen es verraten. Und dann fahren wir um eine Ecke, und auf der Wiese steht ein Gebäude mit Druidenhut obendrauf, umgeben von weit weniger pittoresken Gebäuden, die an eine Art Fabrik erinnern. Nebendran liegen Fässer, zwei Stockwerke hoch übereinandergestapelt, und es ist mir fast peinlich, es zuzugeben: Wir stehen vor einer Whisky-Destillerie. Da hätte ich drauf kommen können, die soll es in Schottland ja geben.
Nun bin ich kein Whiskytrinker sondern diesbezüglich ein elender Banause, und die brennende Frage, die ich aus dem Urlaub mit nach Hause nehme lautet nicht: „Wie kriege ich diesen herrlichen, torfrauchigen Whisky durch den Zoll?“ sondern „Warum sehen Schottlands Whisky-Destillerien aus wie asiatische Pagoden?“
Von wegen Japan: Ein Landvermesser bringt das Pagodendach nach Schottland
Das Pagodendach weckt Assoziationen zu japanischen Teehäusern und buddhistischen Tempeln. Mit Schottland verbinden es nur eingefleischte Whiskytrinker, die darin das Wahrzeichen der Destillerien erkennen – und selbst sie zucken nur mit den Schultern, wenn man nach dem „Warum?“ fragt. Es ist eben so, es wird schon seinen Grund haben, es war schon immer so.
Letzteres stimmt nicht: Whisky-Destillerien gibt es in Schottland schon seit Jahrhunderten, vielleicht schon immer (immerhin behaupten die Schotten, sie hätten den Whisky erfunden, was wohl nicht so ganz korrekt ist, aber ein Thema, über das man mit einem Schotten besser nicht diskutiert). Pagodendächer auf den Destillerien gibt es hingegen erst seit dem 3. Mai 1889, als Charles Doig bei einem Lokaltermin in Dailuaine einen solchen Entwurf vorschlug – aus ganz pragmatischen Gründen.
Pagodendächer ähnlicher Bauart fanden sich zur damaligen Zeit bereits auf der anderen Seite des Atlantiks: Weil in Scheunen gelagertes Heu sich stark erhitzen und sogar selbst entzünden kann, bauten amerikanische Farmer ihre Scheunen mit einem Walmdach, auf dessen Spitze sie ein frei schwebendes Pagodendach aufsetzten. Diese Gebäude- und Dachform erzeugt leichten Aufwind, was die Sicherheit in der Scheune erhöht.
Doig war im Speyside-Gebiet als Landvermesser unterwegs und hatte sich auf Destillerie-Projekte spezialisiert. Neben der Standortsuche übernahm er beratende und planende Aufgaben beim Neubau von Destillerien oder bei der Erweiterung und Optimierung bestehender Anlagen. Als Designer mit hervorragendem technischen Verständnis entwarf er eigene Destillierapparate und andere Gerätschaften für „seine“ Destillerien.
Ästhetik und Zweckmäßigkeit – „Doig’s Ventilator“ belüftet den Kiln
Herzstück jeder Destillerie war damals ein Kiln: In diesem separaten Gebäude wurde die keimende Gerste getrocknet. Die Gerste wurde auf perforierten Böden ausgelegt; die Trocknung erfolgte mit heißer Luft, bis ein Feuchtigkeitsanteil von nur noch 4,5 % erreicht war. Dieser Vorgang konnte bis zu dreißig Stunden dauern. Weil Holz in Schottland eher Mangelware war, wurden viele Kilns mit Torf befeuert, was dem Malz und damit dem Whisky den typisch rauchig-torfigen Geruch gibt.
Eine gute Belüftung war bei diesem Trockenvorgang wesentlich, denn die Temperatur im Kiln durfte 55 Grad Celsius nicht überschreiten, um die Enzyme im Korn nicht zu zerstören. Ursprünglich war auf den Kilns ein „Cardinal’s Hat“ als Belüftung angebracht: Ein großes, flötenartiges Gebilde – eine Art drehbarer Abzugskamin, der sich mit dem Wind ausrichtete und auch auf den Hopfen-Trockenböden der Bierbrauereien zum Einsatz kam.
Das abgehobene Pagodendach, das Doig nun vorschlug, garantierte die Luftzufuhr von allen vier Seiten und sah zudem hübscher aus als die ursprüngliche Konstruktion. Innerhalb weniger Jahre setzte sich „Doig’s Ventilator“, wie das ästhetisch ansprechende Pagodendach höchst unromantisch genannt wurde, durch und verdrängte den „Kardinalshut“ fast vollständig – nicht nur, weil Doig bei Bau und Umbau zahlreicher Destillerien mitbeteiligt war, sondern weil sich manche Dinge auf sehr menschliche Weise durchsetzen: Es war neu, es sah modern aus, und der Nachbar, der Freund oder der Konkurrent hatte auch schon eins an seiner Destillerie.
Heute ist das Pagodendach das Wahrzeichen der schottischen Whisky-Destillerien. Einen Zweck erfüllt es nur noch selten, denn immer weniger Destillerien trocknen ihr Malz selbst – sehr viel häufiger wird es fertig zugekauft. Einen Zweck haben die Dächer dennoch: Sie sehen sehr hübsch aus, machen die Destilleriegebäude unverkennbar, und wenn Festlandtouristen erstmal wissen, wonach sie Ausschau halten müssen, erkennen sie eine Destillerie auch bei Nebel, Regen und nach dem dritten Whisky.