Galionsfiguren waren die Seele ihres Schiffes, behielten den Kurs im Auge, beschützten das Schiff und schüchterten Feinde ein. Ihr Verlust brachte Unglück.
Eigentlich sollten die hölzernen Figuren an der „Galion“, einer Art Balkon am Bugspriet von Segelschiffen, ihre Schiffe vor Gefahren schützen. Doch manche Galionsfigur war selbst eine Gefahr.
Niobe, die männermordende Galionsfigur aus der „Blechtrommel“
Die atemberaubende „Niobe“ etwa war ein wahrer Unglücksbringer – die glutäugige Bugdame soll nicht nur an verlorenen Schlachten und am Kentern ihres Schiffs schuld gewesen sein, sondern selbst dann noch Unfrieden und Unfälle provoziert haben, als sie längst im Museum stand. Mit verklärtem Blick töteten sich gestandene Mannsbilder zu Füßen der exotischen Schönheit.
Noch 1959 macht Günter Grass in seinem Roman „Die Blechtrommel“ die unheilbringende Niobe, „ein üppig hölzerenes Weib, das unter erhobenen Armen, die sich lässig und alle Finger zeigend verschränkten, über zielstrebigen Brüsten hinweg aus eingelassenen Bernsteinaugen geradeaussah“, für den Tod des Museumswärters Herbert verantwortlich. Nur dessen Freund, Oskar Mazerath, vermag es später, ungestraft auf den Brüsten der sündhaft schönen Figur zu trommeln.
Schon fünf Mal verlor die „Gorch Fock“ ihre Galionsfigur und ihre Seele
Der Mythos um Niobe zeigt, wie viel Macht Seeleute ihrer Galionsfigur beimaßen. Vielen war sie die Seele des Schiffs, auf die es stets zu achten gab. Als der Galionsfigur der Fregatte „Brunswick“, die den Herzog von Braunschweig darstellte, im Gefecht der Hut vom Kopf geschossen wurde, meldete die Besatzung erregt, dass es nicht angehe, „dass der edle Lord seinen Feinden barhäuptig entgegentritt“. Der schwer verletzte Kapitän soll daraufhin seinen eigenen Galahut zur Verfügung gestellt und die Schlacht noch vor Sonnenuntergang für sich entschieden haben.
Drohte einem Schiff der Untergang, so war es oft die Galionsfigur, die noch gerettet wurde. Wurde die Bugfigur beschädigt, galt das als großes Unglück, und Schiffe, die ihre Galionsfigur verloren, hatten es schwer, eine Crew zu finden. Es ist ein Glück für die „Gorch Fock“, dass sie nicht im 17. oder 18. Jahrhundert, zur Hochzeit der Galionsfiguren, unterwegs war: Denn wohl kaum ein Schiff hat seine Galionsfigur so oft verloren wie das Segelschulschiff der Deutschen Marine, das bereits seinen sechsten Albatros über die Weltmeere trägt.
Die Drachenköpfe der Wikingerschiffe mussten in heimischen Gewässern abgenommen werden
Auch wenn die üppigen Damen und Meerjungfrauen vom Bug das Bild der Galionsfiguren geprägt haben, so gab es über die Jahrhunderte doch eine große Vielfalt an Galionsfigurmotiven: In der Frühzeit der Schifffahrt waren es überwiegend göttliche Symbole und heilige Tiere, die den Bug von Schiffen zierten. Aufgemalte Augen sollten griechischen Galeeren den Kurs weisen, Krokodile und nackte Männer beschützten römische Schiffe, und die ägyptische Königin Hadeschesput ließ ihre Schiffe mit gebogenen Lotosblüten versehen.
Die Wikinger bevorzugten für ihre Boote den Drachenkopf. Dieser soll abnehmbar gewesen sein, denn das bemalte Schnitzwerk war zur Einschüchterung von Feinden gedacht und so furchteinflößend, dass es in den heimischen Gewässern nicht verwendet werden durfte.
Galionsfiguren, wie wir sie heute kennen, tauchten im 14. Jahrhundert auf, als die bauchigen Rundschiffe von schlankeren Galeonen abgelöst wurden, bei denen auf dem Galion, dem oberen Teil des Vorderstevens, ein Bugspriet aufgesetzt wurde, um vorne mehr Segel fahren zu können. Dort war jetzt Platz für eine Galionsfigur – Drachen, Einhörner oder, wie an Francis Drakes Schiff „Golden Hind“, eine vergoldete Hirschkuh. Das beliebteste Tier aber blieb bis ins 18. Jahrhundert der Löwe als Sinnbild für Stärke und Tapferkeit.
Schiff und Galionsfigur hatten oft einen Bezug zueinander
Mitte des 18. Jahrhunderts kamen immer neue Formen hinzu, und manche Galionsfigur hatte einen Bezug zum Schiffsnamen: Der „edle Räuber“ Rinaldo Rinaldini zierte die „Rinaldo“, ein englisches Kriegsschiff, das Piraten bekämpfte, und „Boreas“, Gott der nördlichen Winde, zierte den Bug des gleichnamigen Schiffs.
Die „hölzernen Engel“, jene üppigen Damengestalten, die heute so bekannt sind, kamen Anfang des 19. Jahrhunderts in Mode. Viele von ihnen waren vollbusig – aber fast ausnahmslos waren sie bekleidet, oder verbargen ihre Oberweite züchtig unter strategisch geschnitzten Haarlocken. Dennoch regte wohl manche Bugdame die Fantasie junger Kadetten an. Die Hexe „Nannie“ etwa, die vom Bug der „Cutty Sark“ lächelt und dem Schiff seinen Namen gab: Das kurze Hemd.
Dampfschiffe verdrängen die großen Segler und beenden die Zeit der Galionsfiguren
Als sich im 19. Jahrhundert die Dampfschiffe mit ihrem geraden Bug ausbreiteten, war die große Zeit der Galionsfiguren vorbei. Die Änderungen im Schiffsbau machten die Damen vom Bug überflüssig – hatten sie früher durch ihr Gewicht besonders bei kleineren Schiffen die Lage im Wasser und die Fahreigenschaften verbessert, so waren sie nun nicht mehr nötig. Auf den modernen Bugformen fanden sie zudem längst keinen so dekorativen Platz wie auf den alten Seglern.
Heute werden fast nur noch Segelschulschiffe und private Yachten mit Galionsfiguren ausgestattet, und nur noch wenige Holzbildhauer können oder wollen sich als Galionsfigurenschnitzer beweisen (Ein Händler aus den USA bietet über Etsy.de* selbst angefertige Galionsfiguren an). Die Bugdamen haben ausgedient – der Glaube aber, dass der Bug eines Schiffes des besonderen Schutzes bedarf, ist erhalten geblieben: Selbst moderne Frachter, Ausflugsschiffe und Öltanker werden auch heute noch beim Stapellauf getauft – wenn auch mit Sekt und nicht mehr mit Tierblut, wie es die alten Seefahrer taten.