Passt das Studienobjekt nicht ins Labor, muss das Labor eben zum Studienobjekt. Im Waldlabor der TU München untersuchen Forscher, wie Bäume funktionieren.
„Die Seele wird vom Pflastertreten krumm, mit Bäumen kann man wie mit Brüdern reden und tauscht bei ihnen seine Seele um. Die Wälder schweigen, doch sie sind nicht stumm. Und wer auch kommen mag, sie trösten jeden.“, schrieb Erich Kästner 1936.
Für den Literaten mag die Zwiesprache mit dem Baum einfach gewesen sein. Für Prof. Dr. Rainer Matyssek von der TU München ist sie es nicht. Denn er sucht nicht Trost im Wald, sondern Antworten auf ganz konkrete Fragen.
Wie funktioniert ein Baum? Wie nutzt er vorhandene Ressourcen? Wie setzt er sich gegen Konkurrenten durch? Und wie reagiert er auf Stress?
Wie man einen Baum zum Antworten bewegt
„Schon im Altertum hat der Mensch Bäume mit wissenschaftlichen Methoden erforscht, und trotzdem können wir viele Fragen bisher nicht zufriedenstellend beantworten“, sagt der Ökophysiologe. Die Bäume sagen nichts dazu. Sie schweigen und rascheln allenfalls mit den Blättern.
Um ihnen dennoch Antworten zu entlocken, rücken ihnen Matyssek und sein Team aus Biologen, Forstwissenschaftlern, Mathematikern und Technikern mit High-Tech zuleibe. Weil ein Baum nicht unters Mikroskop und der Wald nicht ins Labor passt, hat das interdisziplinäre Team sein Labor eben im Wald, mitten im Kranzberger Forst bei Freising, eingerichtet.
Ein halber Hektar Buchen-Fichten-Mischwald steht hier unter experimenteller Beobachtung und wirkt ein wenig wie aus einem James-Bond Film. Bündel von Messleitungen schlängeln sich über den Waldboden und verschwinden in einem Bauwagen. Von den Ästen hängen Schläuche. Elektrische Messbänder spannen sich um Baumstämme, um deren Dickenwachstum zu verfolgen. Wurzelkäfige messen das unterirdische Wachstum. Mikroklimakammern übertragen Photosynthese-Daten direkt auf den Computer. Überall sind Geräte, Sonden und Messmanschetten. Big-Brother für Bäume.
Bis zu 100 Liter Wasser täglich: Buchen sind echte Säufer
Mit dem Kran geht es hinauf, bis über die Wipfel. Entspannt lehnt Rainer Matyssek am Geländer der schwankenden Gondel und erzählt von „seinen“ Bäumen. Er spricht von „Prioritätensetzung und Kosten-Nutzen-Bilanzen der Bäume in deren Reaktionen gegenüber Umweltstress“ und von „Konkurrenzdruck und ökologischer Effizienz, denen sich Bäume stellen müssen.“ Der lyrische Zauber des Waldes scheint hier ziemlich weit weg.
Auch am Boden geht es alles andere als lyrisch zu. Mitarbeiter der TU München rollen Kabel auf und bauen Schläuche ab, die von den Bäumen hängen. Es sind die Reste einer Anlage, für die insgesamt viereinhalb Kilometer perforierte Schläuche verbaut wurden, um damit acht Jahre lang 2000 Kubikmeter Kronenraum mit Ozon zu begasen. Der weltweit einzigartige Langzeitversuch lieferte neue Erkenntnisse dazu, wie Bäume auf eine dauerhaft erhöhte Ozonkonzentration reagieren.
Eine Technikerin implantiert an mehreren Stellen Sonden in einen Baumstamm. Damit wird der Wasserstrom im Baum gemessen. Je nach Größe „trinkt“ eine Fichte dreißig bis fünfzig Liter Wasser am Tag, eine ausgewachsene Buche locker doppelt so viel. Während Nadelbäume das Wasser mit einer Geschwindigkeit von bis zu zwei Metern in der Stunde nach oben transportieren, sind Laubbäume deutlich schneller. „Bei der Buche können es sechs bis acht Meter, bei ringporigen Bäumen wie Eiche und Ulme sogar bis zu 40 Meter in der Stunde“, erzählt Matyssek.
Bäume sammeln ständig Daten und verarbeiten komplexe Informationen
Deutlich langsamer (durchschnittlich mit einem halben Meter in der Stunde) werden die bei der Photosynthese gebildeten Zucker durch die wassergefüllten Leitungsbahnen im Stamm nach unten transportiert. Etwa zwei Tage benötigen sie, bis sie in den Wurzeln ankommen und teilweise in den Boden ausgeschieden werden, wo sie Mikroorganismen zur Atmung und zum Wachstum zur Verfügung stehen.
Um dazu Erkenntnisse zu gewinnen, wird 13C ein natürlich vorkommendes, stabiles Kohlenstoffisotop, als Bestandteil des Kohlendioxids in die Baumkronen entlassen. Regelmäßig werden aus unterschiedlichen Regionen des Baumes Proben entnommen und der 13C-Anteil gegenüber dem des vorherrschenden 12C im Massespektrometer gemessen.
So kann nicht nur erfasst werden, wie viel Kohlenstoff der Baum aufnimmt, sondern auch wohin er ihn transportiert und wofür er ihn nutzt. Der Baum muss entscheiden, ob er die zur Verfügung stehenden Ressourcen zum Wachstum verwendet, zur Produktion von Samen, zur Abwehr von Krankheitserregern und pflanzenfressenden Insekten oder ob er sie als Reserven speichert.
Kann ein Baum also denken, planen und entscheiden? „Nein, sicher nicht so wie ein Mensch“, sagt Matyssek. „Aber er betreibt eine komplexe Informationsverarbeitung.“ Die meisten Daten liefern ihm die Wurzeln und die Blätter bzw. Nadeln. Mit Wurzelkäfigen und Mikroklimakammern misst das Forscherteam auch diese Daten – der PC macht sie sichtbar und liefert eine Liveübertragung der Photosynthese.
High-Tech trifft Natur und ermöglicht eine neue Art des Staunens. Bäume seien „ein Gedicht, das die Erde in den Himmel schreibt“, sagte Khalil Gibran. Zu verstehen, wie dieses Gedicht funktioniert, macht es nicht weniger faszinierend. Zwischen Kabeln, Messmanschetten und Mikroklimakammern ist der Zauber des Waldes plötzlich ganz nah.