Burgen der Schwäbischen Alb: Ruine Reußenstein bei Neidlingen

Die Ruine Reußenstein zählt zu den beeindruckendsten Burgruinen der Schwäbischen Alb. Wie ein Adlerhorst sitzt sie auf einem Felssporn über dem Lindachtal. Ein Riese soll ihren Bau beauftragt haben.

„Die Burg Reußenstein liegt auf jähen Felsen weit oben in der Luft und hat keine Nachbarschaft als die Wolken und bei Nacht den Mond“, schrieb der Schwäbische Märchendichter Wilhelm Hauff Anfang des 19. Jahrhunderts. Doch wie kam die Burg dort hin?

Der Riese und Burg Reußenstein

Ruine Reußenstein, Neidlingen
Gefährliche Lage: 2010 prallte ein Motorsegler gegen eine Steilwand an der Burgruine und zerschellte. Dabei kamen zwei Menschen ums Leben.

Hauff kennt die Antwort: „Gerade gegenüber der Burg, auf einem Berg, der Heimenstein genannt, liegt eine Höhle, darinnen wohnte vor alters ein Riese.“ Der Riese hatte ungeheuer viel Gold, aber keine Gesellschaft, und das Ambiente der Höhle war ihm offenbar auch zu ungemütlich. Er sehnte sich nach einer Burg, wie sie auch die Ritter der Alb besaßen.

Sein Blick fiel auf den Felsen auf der anderen Talseite: Dort wollte er sein Schloss erbauen. Mit bloßen Händen grub er haushohe Felsbrocken aus der Alb und stapelte sie übereinander. Doch er war ein miserabler Baumeister und ein noch schlechterer Statiker. Sein Werk fiel immer wieder zusammen, die Felsen kullerten den Abhang hinunter, und was er baute, war eher ein Geröllhaufen als ein Schloss.

Frustriert legte er sich auf den Beurener Felsen, etwa zwölf Kilometer westlich, für einen Riesen nur ein paar Schritte. Von dort aus schrie er ins Tal hinunter nach Handwerkern. Man hörte sein Geschrei auf der ganzen Alb, bis hinab zum Bodensee, und weil der Riese nicht nur viel Geld, sondern auch einen freundlichen Charakter hatte, kamen alsbald Maurermeister und Zimmermannsgesellen, Steinmetze und Schlosser und bauten eine Burg, die wie ein Adlerhorst auf dem Felsabbruch klebte.

Ruine Reußenstein
Ruine Reußenstein bewachte den Albaufstieg aus dem Lindachtal. Die Lindach entstand, als der Riese von Heimenstein bei einem Besuch seiner Baustelle einen Fehltritt machte und ein Loch in den morastigen Talgrund stampfte.

Der Riese sah von der anderen Talseite aus zu, und die Handwerker „hatten allerlei Schwank und fröhliche Kurzweil mit ihm, weil er von der Bauerei nichts verstand“. Gelegentlich inspizierte er die Baustelle. Dafür musste er mit einem großen Schritt das Tal überqueren. Einmal trat er zu kurz und blieb mit dem Fuß im morastigen Talgrund stecken. Als er seinen Fuß herauszog, entsprang aus dem Loch eine Quelle – versehentlich hatte der Riese die Lindach geschaffen, die unterhalb der Ruine Reußenstein entspringt.

Der letzte Nagel fehlt: Liebe, Mut und Dankbarkeit

Als das Schloss endlich fertig war, stellte sich der Riese stolz ans höchste Fenster, um ins Tal zu blicken. Doch ach, dort, am obstern Fenster fehlte ein Nagel! Keiner der Handwerker hatte es gewagt, sich vor’s Fenster zu setzen und den Nagel einzuschlagen. Der Riese aber wollte den vereinbarten Baupreis erst bezahlen, wenn auch der letzte Nagel saß.

Die Meister boten zehnfachen Lohn – die Handwerker schüttelten den Kopf. Was nutzte aller Lohn, wenn man sich an den senkrechten Felsen zu Tode stürzte?

Ruine Reußenstein
Der mehrstöckige Palas der Burg Reußenstein. In der linken Wand des Hauptgebäudes ist gut der Schlot des Kamins und die Lage der Küche zu erkennen.

Einzig ein junger Schlossergeselle stellte sich der Herausforderung. Nicht Geld, sondern Liebe machte ihn mutig: Er werde den Nagel einschlagen, wenn er im Gegenzug die Tochter des Meisters heiraten dürfe. Unter dem Jubel der Bauleute sprach er ein frommes Gebet und schickte sich an, aus dem Fenster zu klettern.

Der Riese, der zum Geschehen hinzukam, betrachtete den jungen Schlosser, packte ihn beim Genick, hob ihn zum Fenster hinaus in die Luft und sagte: „Jetzt hau drauf zu, ich lasse dich nicht fallen.“

Ruine Reußenstein, Luftansicht
Schwindelerregende Aussicht: Dass kein Handwerker aus dem obersten Fenster des Bergfrieds oder des mehrgeschossigen Palas klettern wollte, um einen letzten Nagel einzuschlagen, kann man gut nachvollziehen, vor allem, wenn die einzige Sicherung nicht aus Klettergurt und Seil bestand, sondern aus der Hand eines Riesen, der für seine spontanen Impulse und heftigen Gemütsbewegungen bekannt war …

Der junge Mann schlug den Nagel ein und kehrte wohlbehalten ins Schloss zurück, wo ihn der Riese aus lauter Dankbarkeit „küsste und streichelte, dass er beinahe ums Leben kam“. Der Riese sorgte dafür, dass der Meister sein Versprechen hielt. Mehr noch:

„Jetzt geh heim, du herzhafter Bursche, hole deines Meisters Töchterlein und ziehe in diese Burg ein, denn sie ist dein“, sprach der Riese und verschenkte seine Burg, noch bevor er sie selbst bezogen hatte. Vielleicht hatte er bemerkt, dass sie für Riesen doch ein bisschen beengt war.

Der Hofbereich zwischen Palas und Bergfried wurde später überbaut.
Bergfried und Hauptburg der Ruine Reußenstein von der Unterburg aus gesehen.

Die wahren Erbauer vom Reußenstein

Ruine Reußenstein, Bergfried
Der Zugang zum neunzehn Meter hohen Bergfried der Ruine Reußenstein liegt sehr hoch und war nur über einen Wehrgang erreichbar. Der Hofbereich zwischen Palas und Bergfried wurde später überbaut.

Der namenlose Schlossergeselle wäre der Legende nach der erste Bewohner von Burg Reußenstein. Wer die Burg tatsächlich gebaut und zuerst bewohnt hat, ist nicht abschließend geklärt. Fest steht aber, dass sie gegen 1270 gebaut wurde und etliche Male den Besitzer wechselte. Als erster Herr der Burg wird 1301 Ritter Diethold von Kirchheim-Stein genannt. Sein Sohn verkaufte die Burg an seine Vettern Konrad und Heinrich Reuß, die den Namen der Burg prägten, obwohl diese nur drei Jahrzehnte im Besitz der Reuß‘ war.

Burg Reußenstein wurde in drei Bauabschnitten errichtet, die heute noch gut zu unterscheiden sind. Der älteste Teil ist die Hauptburg mit dem neunzehn Meter hohen Bergfried (unbewohnter Wehrturm) und dem mehrgeschossigen Palas (bewohnter Saalbau). Der Eingang zum Bergfried liegt sehr hoch und war nur vom Wehrgang aus erreichbar. Die Wände des Bergfrieds sind etwa zwei Meter stark – bei einem Grundriss von ca. 6 x 6 m blieb wenig Platz im Innenraum. Später wurde an den Bergfried nordseitig ein zweigeschossiges Gebäude angebaut, von dem heute nur noch die Kontur des Giebels zu sehen ist.

Der Palas erreicht mit drei Wohngeschossen und jeweils einem Wehr- und Untergeschoss eine beeindruckende Höhe. Gut erkennbar sind die Überreste des Kamins an der Ostseite, wo auch die Küche lag. Der Burghof zwischen Bergfried und Palas wurde später überbaut und mit einer Kapelle ausgestattet.

Ruine Reußenstein
Ruine Reußenstein von Nordwesten aus gesehen. Rechts von der Ruine ist der Halsgraben erkennbar, mit dem die Hauptburg von den umliegenden Felsen „abgeschnitten“ wurde.

Die Kernburg bildet eine homogene Einheit und liegt direkt auf der Felsspitze. Durch einen künstlich erweiterten Halsgraben (ein Halsgraben umschließt eine Burg nicht vollständig, sondern riegelt nur die Teile ab, die nicht durch natürliche Hindernisse geschützt sind) ist sie von den umgrenzenden Felsen „abgeschnitten“.

Der Hofbereich zwischen Palas und Bergfried wurde später überbaut.
Ein schmaler, in und durch den Fels gehauener Zugang führt zur Unterburg.

In zwei weiteren Bauabschnitten entstanden die Vorburg mit Graben und Wall, sowie die Unterburg mit Wohngebäude und Zisterne. Die Unterburg liegt auf einer Terrasse am nordwestlich ausgerichteten Steilhang unterhalb der Hauptburg versteckt. Der Zugang zur Unterburg war gut geschützt: Er führt über einen schmalen, in den Fels gehauenen Weg und durch ein nur achtzig Zentimeter breites Felstor.

Wandern, klettern, paragliden: Burg Reußenstein heute

Kletterfelsen Ruine Reußenstein
Anspruchsvolle Routen mit grandioser Aussicht: Kletterern wird am Reußenstein einiges geboten. Wer gerne in Ruhe und ohne Publikum klettert, sollte unter der Woche und am besten vormittags kommen – wer es lieber gesellig mag, hat am Wochenende gute Chancen auf Bewunderer.

1964 wurde die Ruine Reußenstein an den Landkreis Nürtingen (heute Landkreis Esslingen) verkauft. In den folgenden Jahren wurde sie in Zusammenarbeit mit dem Schwäbischen Albverein und dem württembergischen Denkmalamt umfassend renoviert. 2012 folgte eine Sanierung der Südwand. Burg Reußenstein gehört heute zu den besterhaltenen Ruinen der Schwäbischen Alb. Sie ist frei zugänglich und ein beliebtes Ausflugsziel.

Vom Wanderparkplatz Reußenstein bis zur Ruine sind es rund fünfhundert Meter ohne nenneswerte Steigung. Längere Wanderrouten führen zum Neidlinger Wasserfall unterhalb der Burg, zur Schertels- und Burkhardtshöhle im Süden und an der Albkante entlang nordwestlich zur Heimensteinhöhle und weiter zum Schopflocher Moor.

In nordöstlicher Richtung folgt der Weg der Albkante über das Hofgut Reußenstein (Gartenwirtschaft im Sommer) zum Knaupenfels und weiteren Aussichtspunkten. Hier befindet sich auch die Absprungrampe für Paraglider – bei guter Thermik kreisen oft ein Dutzend Paraglider über der Burgruine.

Ruine Reußenstein
Wandern am Albabbruch heißt Wandern mit Aussichtspunkten und schönen Sitzgelegenheiten. Hier der Blick auf die Ruine Reußenstein vom Wanderparkplatz Bahnhöfle.

Direkt bei der Ruine ist ein beliebtes Klettergebiet. Auf den drei Kalkfelsen können Ein- und Mehrseillängen unterschiedlichen Charakters (Rissklettern, stark gegliederter Fels, kompakter Plattenfels) und Schwierigkeitsgrades (ab 4 bis 9-) geklettert werden, teilweise mit der Möglichkeit, unkompliziert ein Top-Rope anzubringen.

Die Kletterfelsen sind nach Südwesten ausgerichtet und der Hauptwindrichtung ausgesetzt: Nach Regengüssen trocknen sie rasch ab und können fast ganzjährig beklettert werden. Bei schlechterem Wetter kann es am Fels ungemütlich werden.

Wegen Felsabbrüchen und Sanierungsarbeiten ist der Hauptfels oft längerfristig gesperrt. Zwischen 30. April und 30. Juni darf der Hauptfels zudem wegen der Kolkrabenbrut nicht beklettert werden. Mittel- und Südostfels sind frei.

Paragliding Burg Reußenstein
Ein einzelner Paraglider schraubt sich in der Thermik am Albabbruch über Burg Reußenstein in die Höhe.

Lust auf noch mehr Burgen? Dann stöbern Sie in unserer Übersicht der vorgestellten Burgen und Schlösser auf der Schwäbischen Alb.

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner