Seit fünftausend Jahren begeistert die Murmel Kinder und Kaiser. Ein deutscher Glasaugenhersteller ebnete ihr den Weg zum Massenprodukt.
Das Murmelspiel ist eines der ältesten Kinderspiele der Welt. Ausgrabungen belegen, dass auch Ägypter, Babylonier und Germanen schon Murmeln besaßen. Die ältesten Murmeln werden auf dreitausend vor Christi datiert; sie wurden als Beigabe im Grab eines ägyptischen Kindes gefunden.
Kaiser Augustus liebte das Murmelspiel
Auch die Römer waren passionierte Murmelspieler. Doch nur die wohlhabenden Bürger konnten sich echte Steinmurmeln für ihre Kinder leisten. Alle anderen spielten mit Nüssen. Das Murmel- oder Nussspiel galt als typisches Kinderspiel, und der Ausdruck „die Nüsse zurücklassen“ (nucibus relictis) stand für das Erwachsenwerden. Kaiser Augustus legte auf das Erwachsenwerden offenbar wenig Wert: Er soll stets eine Handvoll Murmeln bei sich getragen und sich, höchst unmännlich, beim Gang durch Roms Straßen an den Spielen der Kinder beteiligt haben. Wer diese Partien gewann, ist nicht überliefert.
Gemurmelt wurde und wird weltweit und das seit Tausenden Jahren. „Die Kugel ist die Urform des Universums. Ball- und Murmelspiele, von Boule bis Fußball, sind seit Jahrtausenden ein Dauerbrenner der menschlichen Kultur“, meint Stefan Metzler von der Kugelmühle Neidlingen.
Der Diplom-Agraringenieur ist einer der Letzten, der die Kunst der Steinmurmelherstellung beherrscht. Die Kugelmühle, die er 2005 in Neidlingen auf der Schwäbischen Alb baute, funktioniert nach altem Vorbild. Im Wesentlichen besteht die Mühle aus zwei Teilen – dem „Genger“, einem liegend fixierten Mühlstein mit eingehauenem Rillenprofil, und dem „Läufer“, einem Mühlrad, das passgenau dasselbe Rillenprofil aufweist und sich über dem Genger dreht. Auf diese Weise werden die Steinrohlinge, die zwischen Genger und Läufer gelegt werden, kugelrund geschliffen.
Steinmurmeln wurden als Munition auf Segelschiffen eingesetzt
Während solche Kugel- oder „Märbelmühlen“ im süddeutschen Raum meist ein kleiner Nebenerwerb der Landwirte und Bergbauern waren, waren sie im Thüringer Wald jahrhundertelang ein ernstzunehmender Wirtschaftsfaktor. Millionen Stein- und Tonmurmeln wurden hier hergestellt. Die Steinkugeln landeten nur zum Teil in den Kinderzimmern.
„Der Debit (Absatz) dieses Artikels hängt einzig und allein von politischen Ereignissen, vom Krieg und Frieden ab, indem bei Seekriegen die Märbel, die in dem Tauwerk der Schiffe mehr Schaden anrichten, als die eisernen Kugeln, stark, in Friedenszeiten aber weit weniger gesucht werden“, berichtet die Handlungskommission Sonneberg Johann Georg Otto am 14. September 1804. Weil die „Engelländer mit diesem Kriegs-Bedürfnis ihre Magazine größtentheils schon aufgefüllt“ hätten, sei „vorerst schwerlich noch auf einen ansehnlichen Absatz zu rechnen“.
In den 1950ern wurden im Zuge der Enteignung der Privatbetriebe die letzten Thüringer Märbelmühlen geschlossen. Die meisten sind verfallen; ihre Ruinen zeugen unbeachtet von einer vergangenen Zeit. In einer dieser Mühlen entsteht seit einigen Jahren das Deutsche Murmelmuseum. „Die Murmel hat in Thüringen eine lange Geschichte“, begründet Axel Trümper, warum er mit viel Mühe die alte Märbelmühle in Sachsenbrunn restauriert und zum Museum ausbaut. „Hier wurden nicht nur Stein- und Tonmärbeln produziert, sondern auch die Glasmurmel erfunden“
Ein Thüringer Glasaugenhersteller erfand die Glasmurmel
Die Glasmurmel wurde 1848 erfunden – vom Christoph Simon Karl Greiner, der ein Gerät entwickelte, mit dem sich weiches Glas in Kugelform pressen ließ. Mit dieser „Märbelschere“ wollte Greiner die Produktion von Glasaugen billiger und rationeller gestalten. Das gelang ihm auch, doch es war das „Nebenprodukt“ Glasmurmel, das einen weltweiten Siegeszug antrat. Mit filigranen Mustern versehen waren diese handgefertigten Glasmurmeln kleine Kunstwerke und schon früh begehrte Sammlerstücke. Besonders in Amerika waren diese Murmeln gefragt. Bis heute gibt es dort Sammlervereinigungen für deutsche Glasmurmeln.
Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts war Deutschland die führende Nation in der Murmelherstellung, doch mit dem Beginn des ersten Weltkriegs wurde die Murmelproduktion in Deutschland unterbrochen. Etwa gleichzeitig entwickelten die Amerikaner Maschinen für die Murmelherstellung und übernahmen bald darauf den Murmelmarkt. Das war das Aus für die handgemachte deutsche Murmel.
Heute werden Murmeln hauptsächlich in Fernost und Mexiko hergestellt und sind längst zum Massenprodukt geworden. Ihren Charme haben sie dennoch nicht verloren, und wer der Murmel einmal verfallen ist, der kommt nicht mehr von ihr los. „Murmelspielen ist trotz der einfachen Regeln ein hochtaktisches und ungeheuer spannendes Spiel“, beteuert Alex Paul, der mit seinem Team vom Södeler Klickerverein bereits zum zweiten Mal in Folge den Weltmeisterschaftstitel im Kuhlenmurmeln errang. Wer es nicht glaubt, der kann es jederzeit ausprobieren – eine Kuhle im Boden und ein paar Kugeln oder Nüsse genügen.
Tipp: Einfache „Katzenaugen“-Glasmurmeln kosten heute kein Vermögen mehr. Die Großpackung mit 204 Stück gibt es für 10,95 Euro. Ein Komplettset mit 21 Glasmurmeln im Murmelsäckchen, Metalldose und einem 72-seitigen Buch mit klassischen und neuen Spielideen gibt es für 12,95 Euro.