Auf Pump: Drai­sine­fahrer brin­gen Leben auf tote Gleise

Pumpspaß am Abstellgleis: Oliver Victor von der Erlebnis­bahn Ratze­burg vermietet Hebel- und Fahrrad­draisinen. Wild-West-Roman­tik und Muskel­kater inklusive.

„Vorsicht Draisinen!“ – Ein selten gesehenes Schild an Deutschlands Straßen.

Ein eigentümliches Vehikel mit einem großen, knallroten Hebel in der Mitte rollt langsam in den Erlebnis­bahnhof Schmilau ein. An der Draisine ist alles dran, was drangehört, dennoch fehlt et­was Wesent­liches: der Bandit obendrauf. Denn eigentlich gehören Draisinen in Western­fil­me, als fahrbarer Untersatz für flüchtige Schur­ken, die irgendwo im Nirgendwo einem un­ge­wis­sen Schicksal entgegenpumpen, hart­näckig verfolgt von einem schwitzenden Sheriff.

Statt im Wilden Westen ist das muskel­be­trie­bene Gefährt seit einigen Jahren auf deut­schen Schienen unterwegs und bringt Leben auf tote Gleise. Aktuell gibt es mehr als dreißig Drai­si­nen­strecken in Deutsch­land, laufend kommen neue dazu. Rund 450 Kilometer Schie­nen­stränge laden zum Stram­peln und Pumpen ein.

Darf ich Ihre Cousine mieten?

Wie war das nochmal? Auf der Minidraisine sind vorne und hinten nicht auf den ersten Blick zu unterscheiden ….

Der Reiz des Ungewöhnlichen lockt Menschen auf stillgelegte Bahntrassen. „Zum ers­ten Mal können auch Laien ein Schienenfahrzeug fahren“, meint Draisinenspezialist Oli­ver Victor aus Ratzeburg. „Das war bislang Bahnbediensteten vorbehalten.“ Er war ei­ner der ersten, der das ausrangierte Gefährt 1998 zurück aufs Gleis brachte. Damals war die Draisine noch ein Exot auf deutschen Schienen. „Viele Menschen kannten Drai­si­nen nur vom Hörensagen oder als Requisit alter Schwarz-Weiß-Filme“, erinnert sich Oliver Victor schmunzelnd. „Mitunter vertaten sich Anrufer mit der Bezeichnung. Ei­nige wollten meine Cousine mieten, andere auf meiner Drainage sitzen.“

Großdraisinen eignen sich prima für Familien- oder Betriebsausflüge.

Mittlerweile besitzt er mehr als dreißig Draisinen unterschiedlicher Bauart, dreizehn Kilometer Bahnlinie, drei Bahnhöfe und fast fünfzig Eisenbahnwaggons. Einen davon bewohnt er selbst, den Rest nutzt er als Ferienwohnungen, Jugendzug und Partyraum. „Das hier ist kein Eisenbahnmuseum“, betont er. „Es ist mir wichtig, dass die Sachen erlebbar sind. Sie sollen den Spieltrieb ansprechen und Spaß machen.“ Hemmungslos zerlegt er, baut um und konstruiert Neues, zum Beispiel ein Fahrrad, auf dem sechs Personen im Kreis sitzend strampeln können. Eine Telefonzelle hat er zum Pissoir um­funktioniert, im Maschinenraum einer alten Herkules-Lok richtet er am Erleb­nis­bahn­hof Schmilau gerade eine Sauna ein, komplett mit Whirlpool hintendrauf.

Mit der Fahrraddraisine lässt sich die Landschaft bequem erschließen und genießen.

Auch mit den Draisinen hat er Großes vor, im wahrsten Sinn des Wortes. Einen ganzen Waggon will er auf Muskelantrieb umstellen und damit die vermutlich längste Draisine der Welt bauen. Zweigeschossig soll die Schienengaleere werden, mit Ruderbänken unten und Imbissstube oben.

Bis es soweit ist, müssen sich Bahnfreunde mit den klei­neren Modellen begnügen und haben dabei die Wahl zwischen Fahrrad- und He­bel­drai­sine. Erstere ermöglicht auch durchschnittlich Unsportlichen ein intensives und un­ge­wöhn­liches Naturerlebnis. Weil das Gefährt auf Schienen läuft, müssen Bahn­tras­sen­radler weder lenken noch ständig auf den Weg achten. Gemütlich stram­pelnd kann der Blick ungehindert über die Landschaft schweifen.

Hebeldraisinen sind laut, langsam, unbequem und machen trotzdem Spaß

Die Handhebeldraisine ist „das unkomfortabelste Fahrzeug, das Sie sich vorstellen können“.

Die Handhebeldraisine hingegen hat es in sich. „Das ist das unkomfortabelste Fahr­zeug, das Sie sich vorstellen können“, warnt Oliver Victor fröhlich. Das ist bestimmt über­trie­ben, immerhin wirkte die Gruppe, die vorher zurückkam, zwar ein wenig ver­schwitzt, aber aus­gesprochen zufrieden. Es ist nicht übertrieben. Schon nach wenigen Metern auf dem Vehikel drängt sich die Frage auf, worin genau eigentlich das Ver­gnü­gen am Draisinefahren besteht. Von Westernfeeling keine Spur, dafür gibt es Rücken­schmerzen.

Zum Glück kreuzen die Schienen bereits kurz hinter dem Schmilauer Bahnhof eine Straße. Eine Schranke versperrt den Weg und liefert einen willkommenen Vorwand zum Absteigen. Jetzt heißt es, die Schranke zu öffnen, die Draisine durchzuschieben, ohne dass einem dabei die Schranke auf den Kopf fällt, die Straße zu sichern, die Draisine zu holen und das alles möglichst gleichzeitig. Solcherart beschäftigt, bleibt keine Zeit mehr für eine Sinnkrise. Nach dem zweiten Aufsteigen stellt sich der Spaß von ganz alleine ein. Zwar ist es immer noch anstrengend und nicht sonderlich bequem, aber das gilt auch fürs Tretbootfahren. Und trotzdem freut man sich noch vor dem Aussteigen aufs nächste Mal.

Straßenquerungen erfordern Teamarbeit.

Gemächlich pumpend geht es auf ebenen Gleisen durch Wald, Wiesen und Stoppel­fel­der. Genaugenommen nur auf einem Gleis, auf dem sich rumpelnd eine andere Drai­si­ne aus der Gegenrichtung nähert. Wieder heißt es absteigen. Jetzt kommt eine von Oliver Victors Erfindungen zum Einsatz. Weil gewöhnliche Draisinen nur in eine Rich­tung fahren können, hat er einen Mechanismus ausgetüftelt, mit dem sich die Fahrt­richtung wechseln lässt.

Das ist praktisch, denn so muss das Gefährt nicht vom Gleis gehoben werden. Weni­ger praktisch ist, dass der Umschalthebel ausgerechnet an der Unterseite der Drai­sine montiert ist. Zwei Personen kriechen übers Gleis und fummeln an Zahnrädern. Der Rest steht daneben und amüsiert sich königlich. Unter viel Gelächter wird das Fahr­zeug getauscht.

Beim Draisinefahren kann man unversehens zum Schurken werden

Ein bisschen Fantasie reicht, und man fühlt sich von Banditen umgeben.

Fröhlich und verschwitzt geht es weiter. Das Pumpen macht durstig, aber leider ist das Wasser weg. Es ist in der Flasche, die ist im Rucksack und der ist dummerweise auf der ersten Draisine geblieben, die soeben leise quietschend hinter einer lang­ge­zo­genen Kurve verschwindet. Mit aller Kraft pumpend wird die Verfolgung auf­ge­nom­men, und unversehens stellt sich doch noch Wild-West-Stimmung ein. Die Kühe auf den Weiden werden zur Bisonherde, die Stoppelfelder zu wogendem Präriegras und die ahnungslosen Wasserdiebe zu dreisten Banditen.

„Baumwaggonhotel im explodierten Zug“ am Bahnhof Hollenbek.

Noch vor dem Bahnübergang werden sie gestellt, die Beute redlich geteilt. Denn auch die Schurken haben Durst, und schließlich sind sie unschuldig. Beim Draisinefahren kann jeder unverhofft zum Gauner werden. Oder zum Sheriff, zu Pippi Langstrumpf, Phileas Fogg und Charlie Chaplin, das bleibt der persönlichen Fantasie überlassen. Und selbst wenn man einfach nur stiller Genießer abgelegener Landschaften bleibt – der Pumpspaß ist garantiert. Der Muskelkater übrigens auch.

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