Ein Sonntagsbraten ist mehr als ein Stück Fleisch. Zwischenzeitlich als Inbegriff der Spießigkeit abgelehnt, erlebt er heute eine neue Wertigkeit.
Früher hatte der Sonntag noch seinen Geruch. Gegen zehn schlich er sich in Langschläferträume, um elf begrüßte er heimkehrende Kirchgänger, kurz vor zwölf entfaltete er seine ganze, verführerische Kraft und verdrängte alle Gedanken außer einem: gleich wird der Sonntagsbraten serviert.
Mit dem Fahrrad ins Nachbardorf, um Bratenduft zu schnuppern
Der Braten gehörte zum Sonntag dazu, und umgekehrt. „In alten Kochbüchern ist nicht explizit von ‚Sonntagsbraten’ die Rede. Es verstand sich von selbst, dass ein Braten immer ein Festtagsmahl war und keine Werktagsspeise“, erklärt Sibylle Ophoven vom Kochbuchmuseum Dortmund. Unter der Woche gab es wenig oder gar kein Fleisch; allenfalls ein Eintopf mit Rippchen oder Mettwürstchen kam auf den Tisch. Die Bratenstücke waren dem Sonntag vorbehalten.
Im Laufe der Sechzigerjahre verschwand der Küchenklassiker zunehmend vom sonntäglichen Mittagstisch. „Immer mehr Frauen waren berufstätig“, erklärt Sibylle Ophoven. „Die gesellschaftlichen Verhältnisse änderten sich und damit auch die Struktur der Sonntage. Es wurde lange geschlafen, und statt des Mittagessens gab es in vielen Familien ein ausgiebiges Brunch.“
Die Haushalte wurden kleiner, und für die wenigen Esser lohnte sich die Zubereitung eines großen Bratenstücks nicht. „Um Bratenduft zu schnuppern, schwang sich mein Mann sonntags aufs Fahrrad und fuhr in den Nachbarort, wo es immer so gut nach Schweinebraten roch“, erinnert sich die Bibliothekarin.
Das Kurzgebratene löste den „spießigen“ Sonntagsbraten ab
Insgesamt kam zwar häufiger Fleisch auf den Tisch, aber in anderer Form. Kurzgebratene Steaks und mageres Filet lösten den lange geschmorten Braten mit der krossen Fettkruste ab. Die Tradition des Sonntagsbratens geriet außer Mode und hielt sich fast nur in ländlichen Gebieten, wo noch die ganze Großfamilie zum Essen zusammenkam.
Das brachte dem Braten ein schwer vereinbares Doppelimage ein: einerseits galt er es als spießig, unzeitgemäß und provinziell, andererseits als Symbol eines harmonischen Familienidylls. Fernsehkoch Tim Mälzer bemerkte in diesem Zusammenhang in einem Interview, es habe lange gedauert, „bis man gemerkt hat, ich kann jung sein, kreativ und wild und trotzdem sonntags mit Mama und Papa Braten essen.“
Dass sich Spitzenköche wie er des Klassikers annehmen und ihn mit modernen Rezepten und raffinierten Würzmischungen neu interpretieren, hat diesem zu einem Comeback verholfen. Das ist schön, denn der Sonntagsbraten ist mehr als einfach nur ein großes Stück Fleisch das satt macht. „Er steht für die Familiengemeinschaft, die am Tisch zusammenkommt, und war schon früher nicht nur ein kulinarischer sondern auch ein sozialer Wochenhöhepunkt“, weiß Dr. Thomas Ellrott vom Institut für Ernährungspsychologie an der Universität Göttingen.
Gemeinsames Essen macht auch psychisch satt und nährt den Familienzusammenhalt
„In den letzten Jahren hat die Zahl der gemeinsamen Mahlzeiten in den Familien stark abgenommen“, bedauert der Ernährungspsychologe. „Das Bedürfnis danach ist aber im Menschen verwurzelt. Das gemeinsame Essen bietet Raum für Austausch und Gespräche. Das ist wichtig und sinnstiftend und kann gar nicht hoch genug bewertet werden.“
Äußern heute die zwanzigjährigen Enkel ihren Großmüttern gegenüber den Wunsch nach einem „ordentlichen Braten, der am Tisch aufgeteilt wird“, so steht dahinter – meist unbewusst – genau diese Sehnsucht nach Familie, Zusammenhalt, Nestwärme und einem Gemeinschaftserleben, das auch psychisch satt macht. „Es täte uns gut, die Tradition des Sonntagsbratens im Sinne bewusst zelebrierter, gemeinsamer Mahlzeiten hochzuhalten“, betont Thomas Ellrot. „Das gemeinsame Essen verbindet und ist den Menschen auch heute noch ein wichtiges Bedürfnis.“ Das Gericht auf dem Tisch ist dabei ein Stück weit austauschbar – im Prinzip könnte der Sonntagsbraten auch ein Mittwochsratatouille sein. Nur dass das lange nicht so gut riecht.