„Wenn ein Drache steigen will, muss er gegen den Wind fliegen“, sagt eine chinesische Volksweisheit. „Wenn ein Drache steigen will, braucht er vor allem erstmal Wind“, sagt die Erfahrung. Und der macht nicht immer so ganz das, was der Drachenpilot will …
Als Kind fand ich Drachensteigenlassen enttäuschend. Das Kinderbuch „Der kleine Drachen Fridolin“ in dem ein buntes Fetzerl Stoff vom Wind mitgerissen wird, über die Welt fliegt und Abenteuer erlebt, weckte Träume und Erwartungen. Beide zerschellten an den mäßig ausgeprägten Flugeigenschaften unserer zwar liebevoll aber aerodynamisch fragwürdig selbstgebauten Drachen.
Im Grunde flogen die Dinger nur, wenn ich die Schnur kurz hielt und so schnell wie möglich rannte. Das hatte mit Träumen nicht viel zu tun, machte aber immerhin fit.
Drachensteigen ist Zeit zum Träumen
Später, als Mutter, fand ich Drachensteigenlassen auch enttäuschend – weil der Nylon-Piraten-Drache zwar wunderschön flog, aber das Kind die Schnur nicht an mich abgeben wollte, und Zugucken eben was anderes ist, als eine Schnur in der Hand zu halten, an der ein zuckendes, irgendwie lebendig gewordenes Stück Stoff um seine Freiheit kämpft.
Jetzt komme ich allmählich bedenklich in die Nähe des Großmutterdaseins und finde es herrlich, beim Drachensteigenlassen zuzugucken. Mich beim Drachenfest in der Oktobersonne ins Gras zu legen und in den Himmel zu schauen. Mich davon zu träumen, wenn bei einem leisen, kaum wahrnehmbaren Lüftchen die ersten Kleindrachen reglos im Himmel stehen.
Mich von der technischen Fertigkeit der Piloten faszinieren zu lassen, wenn vier oder sechs Lenkdrachen synchron am Himmel ein Ballett aufführen. Und instinktiv in Deckung zu gehen, wenn ein „echter Drache“ seine Sechs-Meter-Flügel ausbreitet und den Himmel erobert, bevor er im Sturzflug herabstößt. Vielleicht braucht man manchmal einfach ein gewisses Alter, um das Kind in sich zu entdecken.
Chinesische Drachen fliegen mit Kummer und Sorgen davon
Drachen gibt es seit nahezu fast schon immer – schon im 6. Jahrhundert vor Christi gab es diese Flugobjekte in China und dem indonsischen Raum. Die ersten chinesischen Drachen bestanden hauptsächlich aus Bambusstäben und Seide. Weil Seide teuer war, waren Drachen selten. Mancher Drache durfte sogar einzig und allein vom König geflogen werden – und auch das nur einmal.
Der traditionelle chinesische Centipede-Drache sieht ein bisschen aus wie ein Tausendfüßler mit Drachenkopf und langem Schwanz. Er galt während der Qing-Dynastie (1644 – 1911) als Glückssymbol und wurde so hoch wie möglich geflogen, bevor die Leine gekappt und der Drache dem Wind überlassen wurde. Die Chinesen glaubten, dass damit auch Sorgen, Kummer und Gefahren davonfliegen.
Erst im 16. Jahrhundert flogen auch über Europa „echte“ Drachen, wie wir sie heute kennen. Drachen-Vorläufer waren aber bereits bei den Römern in Gebrauch: Sie ließen bei Volksfesten oder Militärparaden bunte Windsäcke steigen und verwendeten Drachenstandarten (Stilisierter Drachenkopf mit flatternder Tuchröhre) als Feldzeichen.
Kampfdrachen – Drachen im Dienst der Armee
Schon früh war der Drache nicht einfach nur ein Symbol oder ein Kinderspielzeug. Drachen wurden auch ganz pragmatisch und oft auch militärisch eingesetzt – lange bevor Daenerys Targaryen, die „Mutter der Drachen“, damit die sieben Königslande in „Game of thrones“ zu erobern versucht.
Im alten Japan dienten Drachen der psychologischen Kriegsführung – ausgestattet mit Geräten, die gräßliche Geräusche erzeugten, flogen sie nachts über das feindliche Heerlager, wo man dann glaubte, von bösen Geistern attackiert zu werden.
In Korea wurden Schlachten mit Signaldrachen koordiniert – die Signale am Himmel konnten auch aus großer Entfernung und in waldigen Gebieten von den Truppen gesehen und die optischen Befehle rasch umgesetzt werden.
In Europa maßen Drachen bei Belagerungen die Entfernung zu den feindlichen Linien: Man ließ den Drachen einfach an der richtigen Stelle abstürzen und maß die die Länge der freigegebenen Schnur. Das klappte, vorausgesetzt die Windrichtung passte …
Bis in den Zweiten Weltkrieg wurden Drachen zur Luftaufklärung eingesetzt. Mit Kameras versehen lieferten sie Bilder von der Front. Als Teil der Seenotrettungsausrüstung stiegen sie mit einer Notantenne auf, über die die in Not geratene Besatzung SOS funken konnte. Auch in der Flugabwehr war das Kinderspielzeug „tätig“: Drachen am Himmel störten die Flugbahnen der Angreifer.
Drachensteigen heute
Bis heute werden Drachen für unterschiedliche Zwecke eingesetzt. Sie dienen als Antennenträger in großer Höhe, als Wetterdrachen und sogar zur Energiegewinnung.
Zudem waren es Drachen und ihre aerodynamischen Eigenschaften, die den Flugzeugbau inspirierten: Von Otto Lilienthal bis zu den Brüdern Wright arbeiteten sich alle Flugzeugpioniere mit Drachen an ihre Konstruktionen heran.
Vor allem aber sind Drachen bis heute ein Spielzeug, das nicht nur Kinder fasziniert. Auch heute nehmen die bunten Konstruktionen ihre Piloten mit in den Himmel, auch wenn sie am Boden stehen bleiben.
Zwei-, dreihundert Meter Höhe kann ein gut gebauter Drache dabei schnell erreichen – der bis heute gültige Höhenrekord liegt deutlich darüber: Am 1. August 1919 ließ Georg Stüve am Aeronautischen Observatorium Lindenberg eine Drachenkette aus acht Schirmdrachen steigen, die eine Höhe von unglaublichen 9.740 Metern erreichte.
Wer es ausprobieren will, dem empfehlen wir hier einige Modelle, die uns persönlich besonders angesprochen haben. Achten Sie bei der Verwendung von Drachen, insbesondere bei großen Exemplaren, auf die Sicherheits- und Flugvorschriften.