Der sagenumwobene Auerochse ist ausgestorben – als „Heckrind“ grast er heute auf deutschen Weiden. Als Rasenmäher für Störche.
„Sie sind etwas kleiner als Elefanten, sehr stark und behende und schonen weder Menschen noch Tiere, die ihnen zu Gesicht kommen.“ So beschrieb Julius Cäsar seinen Landsleuten den Ur oder Auerochsen, der in den Wäldern nördlich der Alpen herumstreifte. Er ließ die wilden Rinder mit den langen, geschwungenen Hörnern nach Rom bringen und bei blutigen Gladiatorenkämpfen im Circus einsetzen.
Wer einen Auerochsen erlegte, war ein Held
Seine Kraft und Wildheit brachte dem Ur auch in seiner Heimat einen mythischen Ruf ein. Die Germanen widmeten dem Auerochsen die zweite Rune im Futhark, dem Runenalphabeth. „Uruz“ steht dabei für den Laut „U“, die Form der Rune repräsentiert die Hörner des Auerochsen. In der Runenmythologie steht Uruz für die ungezähmte Stärke des Urochsen, die grenzenlose Kraft des Universums, innere Stärke, Lebenskraft und Ausdauer.
Gürtel aus Auerochsenleder und Trinkgefäße aus silbergefassten Hörnern waren begehrte und kostbare Trophäen, die Auerochsenjagd galt als die edelste aller Jagden. Wer einen erlegte, wurde verehrt und ging fast schon als Held durch.
Das frühmittelalterliche Nibelungenlied besingt Siegfrieds unbezwingbare Stärke, indem es herausstreicht, dass dieser gleich „starker Ure viere“ erlegt habe. Tatsächlich dürften Auerochsen im Mittelalter schon selten geworden sein, nicht nur wegen der Jagd, sondern vor allem, weil ihr Lebensraum zusehends in Felder umgewandelt wurde.
1627 wurde der Auerochse ausgerottet, 1921 kam er als Heckrind zurück
Im 16. Jahrhundert musste der Zoologe Konrad Gesner schon nach Polen reisen, um einen lebendigen, wilden Auerochsen zu Gesicht zu bekommen. Und die Betrachtungen, die Goethe 1822 über den Ur veröffentlichte, beruhten nur noch auf fossilen Skelettfunden und alten Skizzen.
Der Auerochse war zu dieser Zeit längst ausgestorben, die letzte Kuh segnete 1627 in der Nähe von Warschau das Zeitliche. Dass der damalige Landesherr die letzten Exemplare unter Schutz gestellt hatte, konnte das nicht verhindern. Ein Denkmal erinnert heute an den letzten der wilden Ure.
Erst 1921 wurde der Auerochse „wiederbelebt“, als die Brüder Lutz und Heinz Heck, Zoodirektoren in Berlin und München, einen Rückzüchtungsversuch starteten. Sie machten sich den Umstand zu Nutze, dass alle taurinen und zebuartigen Rindern auf den Auerochsen zurückgehen. Die Gene wären also, so der Schluss der Heck-Brüder, noch vorhanden. Durch die gezielte Kreuzung von Rassen, die noch Merkmale des Urs tragen, wollten sie diese Erbanlagen wieder in einem Tier vereinigen.
Die Nazis beanspruchten den Auerochsen für sich
Schnell gelang es ihnen, ein Rind zu züchten, das zwar deutlich kleiner und weniger angriffslustig als der legendäre Auerochse war, diesem aber ansonsten stark ähnelte. Der erfolgreiche Rückzüchtungsversuch fand Beachtung, nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in Regierungskreisen. Die Nationalsozialisten sahen in dem Versuch, aus „verweichlichten“ Erbanlagen wieder eine durchsetzungsstarke und ehrfurchtgebietende Rasse zu züchten, Parallelen zu ihrer eigenen Ideologie.
Besonders Hermann Göring unterstützte das Projekt und überhäufte die Heck-Brüder mit Auszeichnungen. Den Reichsjägermeister trieb wohl noch ein anderer Gedanke: Die Idee, Auerochsen erlegen zu können, deren Jagd im Mittelalter allein den Königen vorbehalten war. Er förderte die Auswilderung erster Rückzüchtungen in Brandenburg und Polen.
Das nahende Ende des Zweiten Weltkriegs setzte seinen waidmännischen Ambitionen ein Ende. Als die rote Armee bereits vor Berlin stand, schoss Göring persönlich die freigelassenen Auerochsen-Nachzüchtungen nieder, damit die edlen Rinder nicht vom Feind erbeutet wurden. Die Exemplare, die ihm nicht vor die Flinte liefen, tötete der Krieg. Der größte Teil starb im Bombenhagel oder landete im Kochtopf der hungernden Bevölkerung. Nur eine kleine Schar überlebte und wird seither von Enthusiasten weitergezüchtet.
Heckrinder in der Sudeniederung – Rasenmäher für Störche
Heute weidet der Auerochse, oder richtiger, das Heckrind, wieder auf deutschen Weiden. Etwa auf den Feuchtwiesen der Sude, einem Nebenfluss der Elbe.
Mit dem Ziel der Renaturierung kaufte die Stork-Foundation dort 1994 große Flächen auf. Durch das Öffnen der Sommerdeiche sollte die naturnahe Kulturlandschaft erhalten und Lebensraum für die Störche geschaffen werden.
Weil die kurzen Feuchtwiesen, die Störche lieben und brauchen schwer zu bewirtschaften sind, und die Flächen im Naturschutzgebiet obendrein nur extensiv genutzt werden dürfen, wurden hier Heckrinder der Züchtergemeinschaft Niederhoff & Schulz als Landschaftspfleger für die Störche eingesetzt.
Heute weiden fast hundert Auerochsen auf den Weiden – und wenn im Morgennebel ihr tiefes Muhen ertönt, und der große Bulle mit den mächtigen Hörnern hinter einem Busch heraustritt, dann kann man nachempfinden, wie sich Cäsar gefühlt hat, als ihm zum ersten Mal so ein Urvieh begegnete.
Tipp: Mehr über die faszinierende Rinderrasse in „Der Auerochs: Das europäische Rind“ von Walter Frisch.