Der Schatten zeigt die Zeit: Sonnenuhren sind schlichte Zeitmesser – ein bisschen nostalgisch, ein bisschen magisch. Und trotz der einfachen Konstruktion alles andere als schlicht und genauer als man meinen mag …
„Mach es wie die Sonnenuhr, zähl‘ die heit’ren Stunden nur“, steht in dem grün geblümten Poesiealbum, das ich zu meinem achten Geburtstag bekommen habe. Der wohl beliebtste Sonnenuhren-Sinnspruch stand auch in jedem anderen Poesiealbum, das in der Klasse die Runde machte, oft sogar mehrmals.
Tempus fugit – die Zeit flieht: Sinnsprüche auf Sonnenuhren
Mich hat der Spruch genervt, einfach, weil er so häufig zitiert wurde, dass man es nur „überstrapaziert“ nennen kann. Ehrlich gesagt war ich schon als Kind ein ziemlicher intellektueller Snob, und der Mitschüler, der die Sonnenstundenweisheit in mein Album geschrieben hat, hat direkt ein paar Respektpunkte verloren (was besonders dramatisch ins Gewicht fiel, weil er sowas wie der Klassenheld war, der eigentlich gar nicht enttäuschen durfte, aber das ist eine andere Geschichte).
Der Spruch hat lateinische Wurzeln, lautet im Original „Horas non numero nisi serenas“ („Die Stunden zähle ich nicht, wenn sie nicht heiter sind“) und findet sich gerne auch da, wo er herkommt und in gewisser Weise hingehört: Auf Sonnenuhren. Schon früh wurden die einfachen Zeitmesser mit Inschriften und Sinnsprüchen versehen. Beliebte Wendungen wie „Mox nox“ („Bald kommt die Nacht“), „Hora transit“ („Die Stunde vergeht“) oder „Cita mors ruit“ („Schnell eilt der Tod“) erinnern an die Vergänglichkeit des Menschen und an das Vergehen der Zeit.
Andere mahnen, den Tag zu nutzen („Carpe diem!“) oder das Beste aus dem Augenblick zu machen („Dona praesentis rape laetus horae – Ergreife freudig die Gaben der Stunde“). Der Sonnenuhren-Sinnspruch, der mich bei dieser Recherche am meisten angesprochen hat, erinnert daran, dass eine Sonnenuhr ohne Schatten ziemlich nutzlos ist, und dass es im übertragenen Sinn wichtig ist, auch die Schattenseiten des Lebens zu betrachten. Denn: „Umbra docet – Der Schatten lehrt“. Vermutlich ist diese spontane Affinität zur dunklen Seite eine direkte Folge der frühen poesiealbumsbedingten Aufforderung zur Sonnenanbeterei (oder, weniger schwammig formuliert: spätpubertäre Bockigkeit).
Arbeitszeiten von Sonnenuhren
So oder so, wirft der alte Sinnspruch Fragen auf. Wie viele heit’re Stunden zählt so eine Sonnenuhr überhaupt? Wie lange ist sie im Dienst? Wie genau zeigt sie die Zeit an? Und wer hat sie erfunden?
Laut Statistik haben (südseitig montierte) deutsche Sonnenuhren im langjährigen Mittel eine durchschnittliche Jahresarbeitszeit von 1.577 Stunden. 2018 fielen Überstunden an, sogar in Hamburg, das nicht nur gefühlt sondern auch gezählt die wenigsten Sonnenstunden hatte: 1.895 waren es 2018 in der Hansemetropole. 2.005 in Baden-Württemberg, 2.020 im deutschlandweiten Durchschnitt, und beachtliche 2.180 Stunden lang schien die Sonne über Brandenburg.
Brandenburger Sonnenuhren arbeiteten 2018 also durchschnittlich 43,6 Stunden in der Woche. Ohne Urlaub, 52 Wochen im Jahr. 36,5 Sonnenstunden wöchentlich waren es in Hamburg, auch hier 6,5 mehr als noch vor zwanzig oder dreißig Jahren. Gut, dass Sonnenuhren keine Gewerkschaft haben, denn auch die Sache mit dem Rentenalter ist ziemlich empörend: Die ältesten erhaltenen Sonnenuhren in Deutschland waren schon gute zwanzig Jahre im Dienst, als Columbus nach Indien aufbrach und dabei Amerika entdeckte.
Es ist übrigens sehr wahrscheinlich, dass Columbus auf seiner Fahrt eine oder mehrere Sonnenuhren im Gepäck hatte, denn die Sonnenuhr gehört neben Jakobsstab, Quadrant und Kompass zu den nautischen Geräten und halb bei der Orientierung auf See (auch wenn Columubs sich im Grunde gewaltig versegelte, aber auch das ist eine andere Geschichte …).
Die Erfindung der Sonnenuhr
Die bisher älteste erhaltene Sonnenuhr wurde 2017 in einem bronzezeitlichen Grab in der Ukraine gefunden. Sie datiert auf eine Zeit zwischen dem 20. und 12. vorchristlichen Jahrhundert und besteht aus einem Stein mit Kerben, parallelen Linien und elliptischen Mustern. Der Zeiger, das „Gnomon“, wurde senkreckt in eine Vertiefung gesteckt – über die Länge des Schattens konnten das Datum (besonders die Tag- und Nachtgleichen sowie die Sonnwenden) und eine ungefähre Uhrzeit bestimmt werden.
Das Gnomon musste jeden Tag neu ausgerichtet werden, um sich der ständig verändernden Position der Sonne anzupassen. Das war bei allen frühen Sonnenuhren bzw. deren Vorläufern der Fall – egal ob im alten Ägypten (13. Jh. v. Chr.), in Mesopotamien, Indien oder Mexiko.
Entweder waren es ägyptisch-muslimische oder arabische Astronomen, die im 14. Jahrhundert den Schattenstab nicht mehr senkrecht zur Erde sondern parallel zur Erdachse aufstellten und ihn zum Himmelspol ausrichteten (nahe dem Polarstern, weswegen dieses „festgestellte“ Gnomon auch „Polstab“ heißt).
Vereinfacht gesagt wird der Polstab in dem Winkel aufgestellt oder an einer Wand befestigt, die dem Breitengrad entspricht – also 47,5 Grad am Bodensee, 53,5 Grad in Hamburg, oder 50 Grad im deutschen Mittel. Die einfache Änderung revolutionierte die Sonnenuhr: Das schräge Gnomon konnte fest installiert werden, weil die Stundenanzeige von den jahreszeitlichen Veränderungen unabhängig wurden. Die Schattenrichtung hängt bei solchen Uhren nur noch von der Tageszeit ab – das Datum hingegen ist nicht mehr relevant.
Die Sonne in der Tasche: Goethe und die klappbare Reisesonnenuhr
Diese neue und weitaus bequemere Art der Zeitanzeige setzte sich rasch durch, und der Sonnenuhrenbau erlebte einen Aufschwung. Ab dem 15. Jahrhundert wurden Sonnenuhren gewerbsmäßig und in großem Umfang hergestellt. Die Fassaden von Kirchen, Schlössern und Bürgerhäusern wurden mit Sonnenuhren versehen – viele davon kunstvoll gefertigt, denn sie dienten nicht nur der Zeitablesung, sondern auch dem Schmuck des Gebäudes.
„Kompassmacher“ bauten kleine, transportable Sonnenuhren, die zur Ausrichtung einen Kompass benötigten. Klappbare Taschen-Sonnenuhren waren vor allem auf Reisen beliebt. Von Goetehe weiß man, dass er bei seinen Italienreisen stets mindestens eine solche Klappsonnenuhr mitführte. Diese Taschensonnenuhren waren deutlich billiger als die ersten mechanischen Taschenuhren und genügten in der Genauigkeit den Anforderungen der damaligen Zeit.
Mehr noch: Bis Ende des 19. Jahrhunderts waren Sonnenuhren das Maß der Zeit. Die ersten mechanischen Uhren waren so ungenau und anfällig, dass sie einmal am Tag mit Hilfe eines „Mittagsweisers“ korrigiert wurden. Noch im Afrikafeldzug des zweiten Weltkriegs wurden auf beiden Seiten Sonnenuhren verwendet – hauptsächlich deswegen, weil hier kein Sand im Getriebe die Uhr ruinierte.
Magisches Gerät – Sonnenuhr mit 2-Sekunden-Genauigkeit
Exaktes Zeitablesen ist auf einer Sonnenuhr gar nicht so einfach. Die Neigung der Erdachse, der Breitengrad, die Rotationsbahn der Erde um die Sonne – all das hat Einfluss auf den Schattenwurf einer Sonnenuhr. Nur wer hier exakte Berechnungen anstellt und die „Ungenauigkeiten“ des Kosmos ausgleicht, erhält ein Ergebnis, das nach heutigen Maßstäben annähernd „genau“ ist.
Die vermutlich genaueste Sonnenuhr der Welt befindet sich in Indien, in der astronomischen Anlage Jantar Mantar (aus dem Sanskrit „Magisches Gerät), die zwischen 1724 und 1734 in Jaipur erbaut wurde. Die Sonnenuhr „Samrat Yanta“, was übersetzt „König der Instrumente“ bedeutet, mutet auf den ersten Blick nicht wie ein Instrument, sondern wie ein unfertiges Amphitheater an.
Der Schattenzeiger der Uhr ist eine gut 27 Meter hohe „Himmelsleiter“, die ihren Schatten auf zwei geschwungene, mit Marmor ausgekleidete Wände wirft – den Skalen. Feine, in zwei Millimeter Abstand angebrachte Linien ermöglichen eine Zeitablesung, die auf zwei Sekunden genau ist, zumindest theoretisch.
In der Praxis gibt es einen Haken: Durch seine Größe des Gnomons hat der Schatten keinen scharfen Rand mehr, sondern ist „ausgefranst“. Der weiche, je nach Tageszeit bis zu drei Zentimeter breite Übergang zwischen Licht und Schatten macht es unmöglich, exakt zu sagen, auf welchem Skalenstrich der Schatten denn nun liegt. Hier hilft ein simpler Trick: Ein kleines Stück Draht oder Schnur, das zwischen den Händen gespannt wird. Bewegt man dieses langsam über die Skala, wirft die Schnur eine scharfe, dünne Schattenlinie.
Eile mit Weile – natürliche Sonnenuhren und Entschleunigung
Keine noch so akribisch konstruierte Sonnenuhr kann, was die Genauigkeit angeht, heute auch nur mit der billigsten Quarzuhr mithalten. Als Zeitmesser sind Sonnenuhren längst überflüssig geworden, und doch erfahren sie eine Art Rennaissance.
Die komplexen astronomischen Zusammenhänge, die hinter dem vermeintlich einfachen Zeitmesser stehen, fasziniert. In einem Alltag voller Hektik und Zeitdruck suchen Menschen nach Gelassenheit und Entschleunigung. Sonnenuhren mit ihrer meist recht lapidaren Auffassung von Pünkglichkeit sind dafür ein wunderbares Symbol.
Viele Sonnenuhren sind zudem ausgesprochen künstlerisch gestaltet – als Dekoelement an Hausfassaden finden sie heute wieder vermehrt Liebhaber. Stand-Sonnenuhren für den Garten oder die Terrasse sind in fantasievollen Ausführungen zu bekommen und setzen einen Akzent im Garten. Sogar Sonnen-Armbanduhren sind als Gag wieder erhältlich.
Wer besonders viel Zeit hat, kann sich eine ganz besondere Sonnenuhr „erwandern“: Die „Sextnergruppe“ im Pustertal. Das Naturdenkmal besteht aus fünf Bergspitzen rund um Sexten – beginnend mit dem „Neuner“, dem niedrigsten Mitglied der Gruppe (2.582 m), gefolgt vom „Zehner“ (oder Sextner Rotwand, 2.965 m) und dem Hauptberg der Gruppe, dem 3.068 m hohen Elferkofel. Zwölfer- und Einserkofel vervollständigen die natürliche Sonnenuhr.
Dies ist von Bad Moos aus zu sehen: Im Lauf des Tages stimmt der Lauf der Sonne mit den Bergbezeichnungen überein – zur Wintersonnwende steht die Sonne um genau zwölf Uhr über dem „Zwölfer“ und um dreizehn Uhr über dem „Einser“.