Puppenhäuser dienten dem Prestige, revolutionierten die Gerichtsmedizin und sollten Mädchen auf ihre Hausfrauenrolle vorbereiten.
Auf meinem Wunschzettel stand nie ein Puppenhaus. Ebensowenig wie eine Puppe. Das hat mir den Ruf eingebracht, ich sei „kein richtiges Mädchen“. (Die Sache mit der traditionellen Rollenverteilung wurde in den Siebzigern noch erheblich ernster genommen.) Stattdessen standen auf meinem Wunschzettel Pferde und ein Stall.
Mit Puppenhäusern den (späteren) Alltag üben
Ich habe diesen Stall bekommen. Mein Vater hat ihn entworfen und gemeinsam mit mir gebaut. Im Untergeschoss gab es eine Stallgasse, Boxen mit leicht klemmenden Schiebetüren und einen Platz für Werkzeuge. Der Dachstuhl, stundenlang mit handgespaltenen Dachschindeln beklebt, war abnehmbar und diente als Heu- und Strohlager. Echtes Heu und Stroh, das ich heimlich ins Haus geschmuggelt habe, und das auf wenig Gegenliebe bei meiner Mutter stieß, als sie nach Wochen endlich die Quelle für die Strohhalme fand, die an den seltsamsten Stellen im Haus auftauchten.
Der Pferdestall mit den Pferden aus bemalten Klopapierrollen, Holz und später sogar echtem Plastik ist mit Sicherheit eines der meist bespielten Spielzeuge meiner Kindheit. Während der Regen aufs Hausdach prasselte erlebte ich mit meiner Freundin den (meist sonnigen) Alltag auf dem Pferdehof, mit allen großen und kleinen Abenteuern, Sorgen und Konflikten, die uns einfielen oder beschäftigten, und die praktisch immer ein Happy End nahmen.
Auch wenn dieser Stall kein ganz klassisches „Puppenhaus“ war, erfüllte er dennoch genau den Zweck, den Puppenhäuser schon seit Hunderten von Jahren haben: Kinder verarbeiten im Spiel ihren Alltag, erspielen sich ihre Träume und üben ihre Idee von einem späteren Leben. Bei mir war es der Traum vom Leben auf dem Pferdehof. Klassischerweise sollten Puppenhäuser Mädchen auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter vorbereiten – und dass die Realität vielleicht nicht so ganz dem Spiel entsprach, war vermutlich gewollt.
Protz & Prunk: Puppenhäuser als Prestigeobjekt
Das älteste bekannte Puppenhaus wurde 1558 für Herzog Albrecht V. von Bayern gebaut. Er spielte allerdings nicht damit (höchstens heimlich). Das Puppenhaus war ein reines Schaustück und Kunstobjekt.
Auch für die Puppenhäuser des 17. und 18. Jahrhunderts galt „Bespielen verboten!“ – es waren Prestigeobjekte, mit denen reiche Familien ihren eigenen Wohnsitz im Kleinformat nachbauen ließen, um vor ihren Gästen ordentlich damit anzugeben. Dementsprechend üppig, prunkvoll und detailliert waren diese Puppenhäuser ausgestattet.
Warum Gästen lieber ein Nachbau im Kleinformat gezeigt wurde, und nicht das Original, in dem sie sich ja bereits befanden, ist nicht ganz klar. Möglicherweise waren die Nachbauten nur detailliert und eben doch nicht ganz detailgetreu – manche Küche mag im Kleinformat mehr her gemacht haben, und manche schäbige Dienstbotenunterkunft wurde wohl geschönt oder gänzlich unterschlagen.
Das größte Puppenhaus der Welt
Ebenfalls unbespielt blieb bisher das größte Puppenhaus der Welt. „Queen Mary’s Dolls‘ House“ wurde in den 1920ern vom Königshaus in Auftrag gegeben und vom führenden englischen Archtitekten Edwin Lutyens entworfen. Anlässlich der Sommerausstellung der Royal Academy of Arts sollte die „zeitgemäße Luxusvilla“ im Maßstab 1:12 die besten britischen Waren und die modernsten Einrichtungsgegenstände zeigen.
So stehen etwa in der Garage des Miniaturhauses ausschließlich Modelle (damals) britischer Automarken wie Daimler, Rolls-Royce und Vauxhall. Die Mini-Ausgaben wurden zum Teil von den Unternehmen selbst gebaut und zur Verfügung gestellt. Die Lifte im Haus funktionieren ebenso wie die Wasserspülungen in den Toiletten.
Auf charmante Weise „very british“ ist auch die künstlerische Ausstattung des Puppenhauses: Bekannte Schriftsteller wie Rudyard Kipling und Sir Arthur Canon Doyle verfassten eigens Texte für die Bücher der Miniatur-Bibliothek. Zeitgenössische Maler fertigten die Gemälde für die Luxusvilla an, die am Ende nicht ganz so zeitgemäß für die 1920er daherkommt, sondern eher die Belle Époque und den konservativen Geschmack der englischen Upper Class widerspiegelt.
Die gute Stube im Dachboden – Pädagogik und Weihnachten
Das erste „pädagogische“ Puppenhaus mit dem klaren erzieherischen Auftrag, Mädchen auf ihre spätere Hausfrauenrolle vorzubereiten, wurde 1631 von der Nürnbergerin Anna Köferlein gefertigt. Erst im Biedermeier fand das Spielhaus aber weitere Verbreitung.
Vorbild für die frühen Puppenhäuser waren die Wohnungen des gehobenen Bürgertums und der Oberschicht. Zunehmend in Mode kamen auch einzelne Räume als Puppenstube oder Puppenküche – ausgestattet mit allen nötigen Möbeln, Kleingeräten und Utensilien, um ein realistitsches Spiel zu ermöglichen. Etwa um die selbe Zeit hielten auch Kinder-Kaufläden Einzug in deutsche Haushalte.
Typischerweise wurden Puppenhäuser und Puppenstuben den Kindern früher nicht ganzjährig zur Verfügung gestellt, sondern am Weihnachtstag aufgebaut. Schon am Dreikönigstag wurde „die gute Stube“ wieder eingepackt und auf dem Dachboden verstaut. Das Hausfrau-Spielen blieb damit etwas ganz Besonderes, dessen Charme sich nicht abnutzte – vielleicht genau die Intention dahinter.
Mord im Puppenhaus
Einen ganz anderen Lehrauftrag hatte die Amerikanerin Frances Glessner Lee im Sinn, als sie in den 1940ern mit dem Bau ihrer weltweit einzigartigen Puppenhäuser begann. Hier wird nicht gekocht – hier wird gemordet, mit allen grausigen Details. Blutverschmierte Bettlaken, eine abgefeuerte Schrotflinte neben dem Bett und ein totes Kind in der Wiege: Bei diesen Puppenhäusern ist von „heiler Welt“ keine Rede.
Frances Glessner Lee fertigte die Häuser mit faszinierender und oft erschreckender Detailversessenheit: In den winzigen Lampen stecken funktionierende Glühbirnen, die Tapeten blättern ab, neben dem Gewehr liegen winzige Patronenhülsen und auf dem Beistelltisch liegen Ausgaben aktueller Zeitschriften. Mit umfunktionierten Stecknadeln strickte Glessner Lee Pullover für ihre Toten, und sie selbst trug altmodische Kleidungsstücke, um realistisch abgenutzten Stoff zu bekommen.
Detailtreue, die ihren Preis hatte: Rund 4.500 Dollar kostete der Bau jeden einzelnen mörderischen Puppenhauses – fast so viel wie der Bau eines echten Hauses. Frances Glessner Lee konnte sich das exzentrische und teure Hobby leisten: Insgesamt 19 Mordhäuser baute die handwerklich begabte Millionenerbin, und sie tat es nicht zum Spaß oder aus morbider Genugtuung. Im Gegenteil: Die ältere Dame wollte die Welt ein wenig besser machen.
Ihre Puppenstuben sind detailgetreue Darstellungen von Tatorten – inspiriert von echten, ungeklärten Todesfällen. Glessner Lee, die sich trotz elterlichem Verbot in den Kopf gesetzt hatte, Rechtsmedizinerin zu werden, schaffte es, sich autodidaktisch zum ersten weiblichen Mitglied der International Association of Chiefs of Police, einer weltweiten Organisation zur Optimierung der Polizeiarbeit, hoch zu arbeiten.
Puppenhäuser revolutionieren die Gerichtsmedizin
Die Gerichtsmedizin steckte damals noch in den Kinderschuhen – eine formalisierte Ausbildung gab es nicht. Schon 1931 stiftete Frances Glessner Lee der Harvard Medical School eine Viertelmillion Dollar, um die erste rechtsmedizinische Fakultät zu gründen. Mit den „Nutshell Studies of Unexplained Death“ („Nussschalen-Studien unerklärter Todesfälle“), wie sie ihre Puppenhäuser nannte, stellte sie der Universität Harvard später ein wichtiges Hilfsmittel für Seminare zur Tatortarbeit zur Verfügung.
Neunzig Minuten lang hatten angehende Ermittler Zeit, sich die Dioramen ganz genau anzusehen – um sich dann darüber auszutauschen, wie die Indizien zu deuten seien, ob ein Mord oder Selbstmord vorliegt, und wie der Tathergang gewesen sei. Eine Auflösung der tatsächlichen Tathergänge hat Glessner Lee nie gegeben – es ging ihr nie um die Auflösung der Fälle, sondern darum, den Ermittlerblick für Details zu schulen und den Austausch zwischen Ermittlern zu fördern.
Von „unschätzbarem Wert“ seien die Dioramen für den Unterricht gewesen, hieß es 1992 in der „American Medical News“. Als Frances Glessner Lee 1962 im Alter von 83 Jahren starb, übergab die Familie die einzigartigen Puppenhäuser an das Gerichstmedizinische Institut von Baltimore, wo sie noch heute ausgestellt sind.
Wer seinen Kindern jetzt noch ein Puppenhaus schenken möchte (wer weiß schon, was sie darin spielen und üben?), dem empfehlen wir folgende Modelle: