Versunkene Kirchen und belebte Marktplätze – zum Pantà de Sau und nach Vic

Ein Maultier gründet ein Kloster, eine Kirche versinkt im See, und Riesen marschieren durch die Stadt: Rund um den Pantà de Sau und die Kleinstadt Vic stoßen wir auf Legenden, Brauchtum, schöne Landschaft und leckeres Essen.

Tag zwölf unserer Nordspanien-Rundreise führt uns von Barcelona zur schön gelegenen Abtei Sant Miquel del Fai, der größten Höhlenkirche des Landes. Von dort fahren wir ins Landschaftsschutzgebiet Espai Natural de les Guilleries-Savassona, wo wir ein wunderschönes Kloster und eine versunkene Kirche entdecken. Den Abend verbringen wir im „Schweinestädtchen“ Vic, dem lebendigen Zentrum der katalonischen Schweinezucht.

 

San Miguel del Fai
Wir verlassen Barcelona in nördlicher Richtung und folgen der C-59 bis Sant Feliu de Codines. Von dort geht es kurvenreich ins Rossinyol-Tal mit seinen markanten rot-grauen Felsklippen („Cingles de Berti“). Dort wo der Seitenfluss „Tenes“ in einem dreistufigen Wasserfall hinunter zum Rossinyol stürzt, befindet sich Spaniens größte Troglodytenkirche (Troglodyten = Höhlenbewohner). Die Abtei San Miguel del Fai (auch: Sant Miquel del Fai) mit seinen Wasserfällen ist ein viel gerühmter Ort, der schon seit dem 18. Jh. von Dichtern beschrieben wurde. Alexandre Louis Joseph nannte die Wasserfälle „zu manchen Jahreszeiten eines der schönsten Schauspiele, die der Mensch sehen kann“. Víctor Balaguer sprach ebenso wortgewaltig wie begeistert von einer „Titanenleiter“ (unter anderem …) und Max Frisch schwärmte von der Ruhe unter den „silbernen Wasserfällen“. Der Journalist und Schriftsteller Josep Pla äußerte sich 1971 weniger euphorisch, dafür scharfzüngig und spöttisch: „Was wir nirgendwo sahen, war der Wasserfall. Angesichts dieser Widersprüchlichkeit befragten wir eine Frau aus der Gegend, die mir sagte: ‚Der Wasserfall existiert, funktioniert aber nur sonntags. Heute ist Mittwoch. Verstehst du? Du bist am falschen Tag gekommen.‘ Ich war geschockt. Ich hätte nie gedacht, dass es Wasserfälle mit festen, intermittierenden und wöchentlichen Abläufen gibt. Die ungestüme Beschreibung des Wasserfalls von Victor Balaguer war meiner Meinung nach sehr schlecht. ‚Das ist also ein wöchentlicher Wasserfall, wie illustrierte Zeitschriften und Fußballspiele‘, sagte ich der Frau. ‚Wenn Sie Lehrer wären und mit den Jungen oder Mädchen Ihrer Schule gekommen wären, hätten sie es Ihnen gezeigt. Normalerweise tun sie das, wenn die Kinder mit ihren Lehrern kommen. Ansonsten funktioniert der Wasserfall nur sonntags, wenn Menschen da sind, denn es wäre eine Schande, wenn diejenigen, die heraufkommen, um ihn zu sehen, nicht sehen würden.'“

 

San Miguel del Fai
Achtung Spoiler: Wir bekommen den Wasserfall nicht vorgeführt (vermutlich, weil wir keine Lehrer sind und keine Kinder dabei haben). Den kurzen Weg zum Klostereingang machen wir trotzdem – schon allein wegen des Blickes über das Tal. Auf der Rossinyol-Brücke überqueren wir den gleichnamigen Fluss. Sie wurde im Jahr 1592 im romanischen Stil erbaut. Die kleinen Gewölbe auf beiden Seiten der Brücke („Squinches“) dienen der Stützung des Bogens und der Stabilität der Brücke. Zur selben Zeit wie die Brücke wurde auch die Foradada-Passage geschaffen und damit ein neuer Zugang zum darunter gelegenen Kloster errichtet. Der Durchgang ist von einem Bogen überspannt, auf dem ein kirchliches Wappen mit Kardinalshut und zwei Quasten zu sehen ist.

 

San Miguel del Fai
Der Ort wurde 887 erstmals urkundlich erwähnt; 997 wurde er von Gombau de Besora für eine Klostergründung gekauft. Das Gründungsdatum der Abtei ist nicht bekannt, aber bereits im Jahr 1006 lebte hier die erste Gemeinschaft von Benediktinermönchen. Das Priorat, das im Bild zu sehen ist, wurde vermutlich zwischen dem 16. und 17. Jahrhundert im gotischen Stil errichtet. Die Öffnung der Foradada-Passage führte im späten 16. Jh. zum Bau des befestigten Tors. Hier ist für uns Schluss: Der Naturpark hat nur am Wochenende geöffnet (und wie links im Bild zu sehen ist, „funktioniert“ wochentags auch der Wasserfall nicht richtig). Der Eintritt ist frei; Tickets sind aber zwingend erforderlich und werden am besten vorab auf der Webseite des Naturparks gebucht. Dort erfährt man auch, wenn das Kloster wegen Waldbrandgefahr oder widriger Witterungsbedingungen gesperrt ist. Sehenswert ist neben der Landschaft, den Höhlen und dem Wasserfall (habe ich den Wasserfall erwähnt?) vor allem die Klosterkirche, die um 1006 direkt in eine große Höhle gebaut wurde, und deren Dach aus dem natürlichen Felsen gebildet wird. In der Kirche ist die Madonna del Fai zu sehen, eine der seltenen Madonnen, bei denen das Jesukind einen Vogel in der Hand hält. Dieser nimmt – vermutlich – Bezug auf das apokryhe Kindheitsevangelium nach Thomas, nach dem Jesus als Fünfjähriger zwölf Spatzen aus Lehm geformt und zum Leben erweckt haben soll (und das am Schabbat, an dem jegliche Arbeit verboten war!)

 

Panta de Sau
Wir fahren weiter nach Norden, in die Region Osana und den Naturpark  Guilleries-Savassonam, der sich auf 83 km² rund um den Sau-Stausee (Pantà de Sau) erstreckt. Unser Plan sieht vor, den Stausee einmal zu umrunden, so dicht wie möglich am Ufer. Das sieht auf der Karte einfacher aus, als es tatsächlich ist – ein großer Teil der eingezeichneten Straßen verdient eher die Bezeichnungen „Karrenweg“ oder „Rückegasse“, was uns zu einigen Kehrtwenden und Routenänderungen veranlasst. Von Südwesten kommend steuern wir daher als erstes die Benediktinerabtei Sant Pere de Casserres an. Auf dem Weg stolpern wir über das Vier-Sterne-Hotel „Parador de Vic-Sau“, das in einem alten katalanischen Herrenhaus untergebracht ist. Die Ruhe und der Pool mit der fantastischen Aussicht über den Stausee lassen uns einen Moment lang erwägen, unsere Übernachtung spontan umzubuchen …

 

Sant Pere de Casserres
Die Benediktinerabtei Sant Pere de Casserres erweist sich als glücklicher Zufallsfund. Ganz ehrlich – wir hatten weniger erwartet und ernsthaft überlegt, ob sich der Abstecher lohnt, denn die Abtei liegt am Ende einer Sackgasse (und wir wollten doch im Kreis fahren!). Auf drei Seiten vom Ter umflossen thront das kleine Kloster auf einem Felssporn, der das Ende einer rund vier Kilometer langen, schmalen Landzunge markiert. Ende des 9. Jh. stand hier eine Burg mit einer Kapelle, die dem Heiligen Petrus geweiht war. 1006 erwarb die Vicomtesse Ermetruit von Osona-Cardona das Gut und gründete mit ihrer Schwiegertochter ein Petrus geweihtes Kloster.

 

Sant Pere de Casserres
Die Legende erzählt, dass Sant Pere de Casserres über den Reliquien eines Kindes aus der Familie der Vicomtes errichtet wurde. Dieses Kind konnte bereits drei Tage nach seiner Geburt sprechen, und sagte voraus, dass es nur dreißig Tage leben würde. Nach seinem Tod solle sein Leichnam in einer verschlossenen Truhe auf ein Maultier gebunden und das Tier freigelassen werden. Dort, wo das Maultier stehen bleibe, solle ein Kloster zu Ehren des Heiligen Petrus errichtet werden. Das Maultier hätte sich kaum einen besseren Platz für eine Ruhepause aussuchen können.

 

Sant Pere de Casserres, Panta de Sau
Im Kloster sind die mumifizierten Reste eines Kindes erhalten. Diese werden von den Bewohnern der Region als Reliquien verehrt und sollen übernatürliche Kräfte haben. In Dürrezeiten wurde die Truhe mit dem Leichnam in einer Prozession zum Fluss Ter hinunter getragen und mit Flusswasser benetzt. Das sollte für Regen sorgen. Bei unserem Besuch im Herbst 2023 führte der Ter nur wenig Wasser, und der Wasserspiegel des Stausees lag weit unterhalb der üblichen Füllmenge. Ob die Reliquien auch heute noch zum Wasser getragen werden, konnten wir nicht in Erfahrung bringen.

 

Sant Pere de Casserres
Das Klosterleben in Sant Pere de Casserres begann im Jahr 1012 mit einer Gemeinschaft von Benediktinermönchen – der einzigen in Osona. Die Klosterkirche wurde 1053 als Abteikirche geweiht. Sant Pere de Casserres wurde zur Grablege der Gründer und anderer Adelsfamilien in der Region, die das Kloster mit großzügigen Schenkungen bedachten. Zudem diente es als Altersruhesitz alleinstehender Damen. Diese vererbten ihr Vermögen dem Kloster, um im Gegenzug nicht alleine sterben zu müssen. Bereits 1060 wurde die Abtei zum Priorat herabgestuft, weil weniger als die erforderlichen zwölf Mönche dort lebten. 1079 wurde Sant Pere de Casserres der Benediktinerabtei Cluny unterstellt und zum Verwaltungszentrum der Besitztümer Clunys in Katalonien. Mehr als zwölf oder dreizehn Personen lebten nie im Kloster – Ende des 15. Jh. gab es nur noch zwei Mönche, und die ehemalige Abtei verfiel zusehends. 1991 wurde sie von der Kreisverwaltung Osona gekauft und zwischen 1994 und 1998 umfassend renoviert. Die Kirche selbst hat einen quadratischen Grundriss mit drei Schiffen, die durch zwei kreuzförmige Pfeiler getrennt sind. Alle drei Schiffe sind als Tonnengewölbe mit halbrunder Apsis gestaltet. Von der Bemalung, die im Modell rechts zu sehen ist, sind nur wenige Reste erhalten.

 

Sant Pere de Casserres
Der Kreuzgang ist das zentrale architektonische Element des Klosters. Er stammt vom Ende des 11. Jh. und ist der älteste Kreuzgang mit Säulengängen in Katalonien, und der einzig bekannte mit freistehenden Säulen an drei seiner Ecken. 1426/27 stürzte der Kreuzgang bei einem Erdbeben ein und wurde später mit rechteckigen Blöcken wieder aufgebaut. Dabei wurden zahlreiche Elemente des ursprünglichen Kreuzgangs genutzt, was die vollständige Nachbildung von zwei Galerien ermöglichte. Die anderen beiden wurden in der Form aufgebaut, die im 15. Jh. üblich war. Die Kapitelle zeigen geometrische und pflanzliche Motive. Heute ist der Kreuzgang ein Ort großer Stille – wer Ruhe sucht, findet sie auf dem ganzen Gelände von Sant Pere de Casserres, und ganz besonders hier im lichtdurchfluteten Kreuzgang.

 

Sant Pere de Casserres
Der Keller von Sant Pere de Casserres wurde Ende des 11. Jh. in der letzten Bauphase des Klosters errichtet. Hier nahmen die Mönche die Nahrungsmittel in Empfang, die vom Kloster selbst oder von den Bauern auf den klösterlichen Besitzungen erzeugt wurden, und lagerten sie ein. Daher hat der Saal eine vom Rest des Klosters unabhängige Außentür und nur wenige Öffnungen für Licht und Luft. Im 15. Jh. diente der (eher ungemütliche …) Saal als Aufenthaltsraum für die Donaten, jene Personen, die mit der klösterlichen Gemeinschaft zusammen lebten. Der Bogen des Zugangs zum Glockenturm ist jüngeren Datums: Er stammt aus dem Jahr 1970.

 

Sant Pere de Casserres
In den Räumen des Klosters ist heute eine kleine Dauerausstellung zum klösterlichen Leben eingerichtet. Die Kammer des Priors (links) wurde im 11. Jh. im ersten Stock über dem Keller errichtet. Der Prior (und gegebenenfalls der Abt) hatten eine Kammer für sich, getrennt von den anderen. Hier wurden auch die Besitztümer und Abgaben verwaltet, die zum Unterhalt des Klosters dienten. Aufgrund seiner Wichtigkeit und seines repräsentativen Charakters verfügte der Raum über einen Kamin – eine Annehmlichkeit, die der restlichen Gemeinschaft nicht zur Verfügung stand. Unweit der Kammer des Priors ist ein Blick in das gemauerte Dach des Glockenturms möglich (Mitte). Im Erdgeschoss war das Refektorium, der Speisesaal der Mönche, untergebracht (rechts). Während der Mahlzeiten wurde von der Kanzel aus vorgelesen; die Tür zum Refektorium blieb geschlossen. Das modern anmutende Design der Möbel ist den Darstellungen von Mahlzeiten auf Miniaturen und Gemälden aus dem 11. Jh. nachempfunden, auf denen oft halbkreisförmige Tische mit einem geraden Teil für die Bedienung zu sehen sind.

 

Panta de Sau
Vom Kloster Sant Pere de Casserres im äußersten Nordwesten des Pantà de Sau fahren wir zur Staumauer an der Südostspitze des Sees. Die Straße am südlichen Seeufer erweist sich nach etwa zwei Kilometern als zunehmend schwerer passierbar, mit Mühe finden wir eine Stelle zum Wenden und nehmen den langen Umweg außen rum – das sind fünfzehn Kilometer mehr, dafür viele bange Momente weniger.

 

Panta de Sau
Der Pantà de Sau wurde 1962 fertig gestellt und ist ein wesentlicher Teil der katalanischen Trinkwasserversorgung. Für den Bau des Stausees wurden fünf Dörfer überflutet und ihre Bewohner in den neu angelegten Ort Vilanova de Sau umgesiedelt. Wir passieren den 320-Einwohner-Ort auf unserer Fahrt zum Staudamm – viel mehr als ein paar Häuser sind es nicht; ein Café suchen wir vergeblich. Bei vollständiger Füllung des Stausees ragt der Turm der Kirche des Ortes Sant Romà noch etwa zwei Meter weit aus dem Wasser. In trockenen Jahren kommt sie hingegen vollständig zum Vorschein. Wegen jahrelanger Dürre („seit 40 Monaten wenig Niederschlag“; Stand 2. Feb. 2024) stand sie bei unserem Besuch deutlich oberhalb der Wasserlinie.

 

Panta de Sau
Auch der Nautische Club Vic/Pantà de Sau liegt auf dem Trockenen: Wo sonst Segelboote und Moteryachten am Anleger schaukeln, grasen bei unserem Besuch Kühe. Bei höherem Wasserstand verfügt der Stausee über achtzehn schiffbare Kilometer. Neben Elektrobooten werden Kajaks, Kanus und Wakeboards vermietet, außerdem gibt es eine Wasserski-Schule und geführte Touren mit dem Kajak oder dem Stand-Up-Paddle. Die teilweise versunkene Kirche ist dabei eines der beliebtesten Ziele.

 

Panta de Sau
Der Pantà de Sau ist von steilen Bergen und eindrucksvollen Felsformationen umgeben. Im Norden sind das die Cingles de Tavertet. Das Felsmassiv erreicht eine Höhe von 869 Meter – und überragt den Stausee damit um gute sechshundert Meter. Die nahezu senkrecht abfallenden, rot-grauen Felswände sind ein beliebtes Ziel für Wanderer und Kletterer, die aussichtsreiche Routen mit technischen Herausforderungen mögen.

 

Panta de Sau
Im Südwesten ist der Stausee von der Bergkette Turó de Vaig Verd begrenzt. Diese erreicht eine Höhe von 1.187 m. Etwas westlich von Vilanova de Sau fällt die Gebirgskette abrupt in die fruchtbare (Hoch)Ebene rund um das Dorf ab. Nach einer ausgiebigen Pause (auf einem Picknickplatz mit einer kämpferischen Familie roter Katzen) fahren wir zurück – auf demselben Weg, auf dem wir gekommen sind. Nach den Erfahrungen mit den Straßen auf der Südseite des Sees verzichten wir auf weitere Experimente – zumal die Wege, die nach Norden führen, noch weniger vertrauenerweckend aussehen. Die Gegend erkundet man wohl besser zu Fuß, mit dem Mountainbike oder zu Pferd. Oder zumindest mit einem geländetauglichen Allrad-Auto.

 

Vic, Osona
Wir erreichen Vic, die Hauptstadt der Region Osona, und unser heutiges Übernachtungsziel. Vic ist eine beschauliche, dennoch lebendige Kleinstadt und gehört zu den katalanischen Orten mit einem deutliche Bevölkerungswachstum: Seit 2006 ist die Einwohnerzahl um fast neuntausend auf 47.545 gestiegen (Stand 2022). Das mag an der Nähe zu Barcelona (ca. 70 km) liegen – in Vic wohnt man vergleichsweise metropolennah und zugleich mitten im Grünen. Die Stadt selbst bewirbt sich als „Slow City“ – ein von der Slow-Food-Bewegung inspiriertes Prädikat, das für gute Lebensqualität, die Unterstützung kultureller Diversität und die Betonung der eigenen, regionalen Produkte und Werte steht.

 

Vic, Placa Major
Die Plaça Major, der zentrale Marktplatz, zählt zu den größten Hauptplätzen in Katalonien, und ist von typisch katalonischen Häusern umgeben. Architektonisch sind verschiedenste Stilrichtungen vertreten: Mittelalter, Barock, Modernisme. Eines der auffallendsten Gebäude ist das Kulturzentrum im Casino de Vic an der südöstlichen Ecke des Platzes (das mit dem hübschen Turm). Gemeinsames Element der bunten Stilmischung sind die Arkadengänge, die den Platz fast lückenlos umgeben, und die fast ebenso lückenlos mit Tischen und Stühlen von Cafés, Restaurants und Bars möbliert sind. Dienstag und Samstag sind Markttage; dann werden auf der Plaça Major regionale Produkte und preiswerte Kleidung verkauft. Der Platz selbst ist nicht gepflastert, sondern mit Sand bedeckt. Das war besser für das Vieh, das aus den landwirtschaftlichen Betrieben der Region hier her getrieben und verkauft wurde. Bis heute findet einmal jährlich in der Vor-Osterzeit ein großer Bauern- und Viehmarkt in Vic statt.

 

Vic, Denkmal Schweinezüchter
Viehhandel und vor allem auch Schweinezucht haben in Vic eine lange Tradition. Daran erinnert nicht nur die auffallend hohe Dichte an Metzgereien, sondern auch die Statue „El Porcateur“ (Der Schweinehirt) von Marta Solsona, die vor dem Edifici del Sucre (Zuckergebäude) steht. Sie zeigt einen offenbar wohlhabenden, elegant gekleideten und frisierten Viehzüchter, der ein Ferkel zum Markt trägt. Die Schweine wurden (und werden) zu Kataloniens beliebester Salami verarbeitet: Der Llonganissa de Vic. Die Llonganissa ist eine Rohwurstspezialität, die aus magerem Schweinefleisch, gemischt mit kernigem Speck und einer Gewürzmischung aus Pfeffer, Nelke, Anis und einer Prise Zimt hergestellt wird. Typisch ist die intensive, leuchtend rote Farbe, die deutlich erkennbaren Speckwürfel und ein vergleichsweise niedriger Fettgehalt von rund zwanzig Prozent. Die Llonganissa wird im Naturdarm mehrere Wochen lang luftgetrocknet, bis sich eine typisch weiße Blüte (Edelschimmel) bildet – die Mischung aus Bergluft und Meeresbrise soll mit zu ihrem charakteristischen Geschmack beitragen.

 

Vic, Römischer Tempel
Vic blickt auf eine lange Stadtgeschichte zurück. Das älteste (und vermutlich bedeutendste) Monument der Stadt ist der römische Tempel aus dem 1. Jh. Kurioses Detail seiner Geschichte: Die Existenz des Tempels blieb über Jahrhunderte völlig unbekannt. Als im elften Jahrhundert ein Schloss gebaut wurde, war der Tempel im Weg. Statt ihn einzureißen, wurde das Schloss einfach drumherum gebaut – der Tempel formte den Innenhof des Schlosses, das im Laufe der Geschichte unter anderem als Königkliche Kurie, als Getreidespeicher und als Gefängnis diente. 1882 hatte das Schloss endgültig ausgedient und wurde abgerissen. Zum Vorschein kam ein Schmuckstück römischer Architektur in einer Größenordnung, von der man meinen könnte, dass man es nicht so leicht übersieht.

 

Vic, Església de Sant Felip Neri, Casa Masferrer
Was das Übersehen großer Monumente angeht, sind wir allerdings die letzten, die sich weit aus dem Fenster lehnen sollten. Wir schaffen es, eine der Hauptsehenswürdigkeiten der Stadt zu übersehen: Die Kathedrale von Vic, die am höchsten Punkt der Stadt errichtet wurde und zu den wichtigsten historischen Bauwerken ganz Kataloniens gehört. Dafür entdecken wir in den engen Gassen wunderbare Perspektiven und Details, etwa die Sgraffito-Fassade der Casa Masferrer (Mitte). Sgraffito ist eine Dekorationstechnik, bei der mehrere Schichten verschiedenfarbiger Putze aufgebracht und dann später in Teilen wieder abgekratzt werden, um die darunter liegende Farbe zum Vorschein zu bringen. Außerdem stolpern wir über die von außen höchst unscheinbare Església de Sant Felip Neri (rechts). Außer einem dezenten Schild, einem sehr kleinen Kreuz auf dem Giebel und einer Büste des Heiligen Philipp Neri über der Tür lässt nichts vermuten, dass es sich hier um eine Kirche handelt.

 

Vic, Eglisia San Felip
Hinter der schlichten Fassade verbirgt sich ein barockes Kleinod mit viel Gold, Silber und Königsblau. Die Gemeinde wurde 1713 gegründet, im Jahr danach wurde mit dem Bau des Gemeindehauses begonnen. 1725 wurde die Kirche geweiht. Der barocke Altar ist der Jungfrau Maria gewidmet.

 

Casa Masferrer
Ein weiteres Detail der Casa Masferrer (auch „Puigsec“) ist das Modernisme-Fenster direkt gegenüber der Fassade des römischen Tempels. Die Casa Masferrer wurde zwischen Ende des 19. und Anfang des 20. Jh. gebaut. 1860 wurde hier der Literarische Zirkel gegründet. Dessen berühmtestes Mitglied war der katalanische Dichter Jacint Verdaguer, der als der bedeutendste Vertreter der Bewegung zur Wiederbelebung der katalanischen Sprache gilt.

 

Vic, Placa Major
Während des Mittelalters war Vic in zwei Sektoren aufgeteilt. Der eine gruppierte sich um die Montcada-Burg (jenen Palast, der um den römischen Tempel herum gebaut wurde), der zweite um die Kathedrale mit dem Bischofssitz. Heute ist von dieser Trennung nichts mehr zu spüren: Die Altstadt gruppiert sich nun um den zentralen Hauptplatz, wo wir in einem der vielen Restaurants den Abend ausklingen lassen.

 

Vic, El Merma
Direkt neben unserem Tisch sitzt einer der berühmtesten Bewohner der Stadt: El Merma, eine Figur der hiesigen Folklore. El Merma (rechts) stellt einen kleinen Mann mit grotesk großem Kopf dar, auf dem zwei fast ebenso grotesk große Warzen prangen (eine auf dem kahlen Schädel, die andere auf der linken Wange). Er trägt ein Minnesängerkostüm und begleitet die Fliegenweichlerin (Cap de Llúpia; links im Bild), die ebenfalls einen viel zu großen, warzigen Kopf auf ihren mageren Schultern trägt. Der dritte im Bund ist ein Junge, den wir nicht entdecken, der aber ebenfalls einen zu groß geratenen Kopf hat – die drei übergroßen „Wolfsköpfe“ aus Pappmaché werden bei Hauptfest (um Fronleichnam) von Bürgern der Stadt getragen. El Merma ist derjenige, der Platz für die Riesen schafft: Wer nicht aufpasst, kann Schläge einstecken.

 

Auf dem Rückweg zum Hotel plündern wir noch eine Bäckerei – wenn wir schon die traditionelle Llonganissa nicht probiert haben, fühle ich mich zumindest verpflichtet, die Qualität der hiesiegen Törtchen und Backwaren zu prüfen. Man muss Opfer bringen! In der Tat schmecken sie so gut, dass ich einen Moment lang in Erwägung ziehe, nochmal zurück zu laufen, doch in der Zwischenzeit hat der Laden leider (oder zum Glück …) geschlossen. Am kommenden und letzten Tag unserer Nordspanien-Rundreise wollen wir ins Mittelalterstädtchen Besalú mit seiner beeindruckenden romanischen Brücke.

 

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